Verdammte Deutsche!: Spionageroman (German Edition)
Gedanken, und wie damals, als er mit den Eltern Southampton verlassen hatte, quälte ihn ein Heimweh nach England.
Jeden Abend versuchte er, ihr einen Brief zu schreiben, aber einer nach dem anderen landete im Papierkorb. Es wollte ihm nicht gelingen auszudrücken, was er wirklich empfand. Einmal niedergeschrieben, wirkte es irgendwie beschämend auf ihn, dann wieder zu hölzern. Und wer weiß, vielleicht liest ihr Vater die Briefe?
Heute nachmittag gelang ihm endlich doch einer. Während der Kaffeepause schrieb er ihr, er besuche Lehrgänge in Kiel, und schilderte ihr die Schönheit der Förde und der herbstlichen Landschaft. Von seinem Dienst schrieb er nicht viel, das würde sie nur langweilen, es langweilt ja auch ihn. Eine Weile rätselte er, ob er schreiben soll, wie oft er an sie denkt, tat es schließlich und schloß den Brief mit dem Wunsch, daß es ihr gutgehe und sie sich bald wiedersähen. Das Kuvert adressierte er an das College in Cheltenham und brachte den Brief gleich nach dem Ende des Kurses zum Hauptpostamt. Von dort würde er einen Tag früher abgehen, als wenn er ihn einfach in den nächsten Briefkasten geworfen hätte.
Er verwünscht seine Versetzung zur U-Boot-Flottille. Nichts als Lehrgänge, Vorträge, technische Prüfungen. Wenn er wenigstens auf See wäre! Stürmischer Wind im Gesicht, salzige Gischt um die Ohren, straffer Dienst. Das würde ihm guttun. Oder von London aus die Royal Navy ausspionieren.
Vorhin, bevor er zur Seebrücke gegangen ist, verkündete der Flottillenchef beim gemeinsamen Abendessen der Offiziere, gestern sei in Portsmouth der britische Super-Dreadnought King George V. vom Stapel gelaufen. Das Schlachtschiff verdrängt 27 000 Tonnen, soll 22 Knoten laufen können und trägt zehn 34,3-Zentimeter-Geschütze in fünf Drehtürmen.
Und hier in Kiel ist vor drei Tagen der neue Große Kreuzer Moltke in Dienst gestellt worden, ebenfalls ein Super-Dreadnought mit 25 400 Tonnen, 25,5 Knoten schnell und mit zehn 28-Zentimeter-Geschützen in fünf Drehtürmen armiert.
Spätabends macht er noch einen Spaziergang, vorbei am Bahnhof und wieder hinauf zu den Seegartenbrücken. Dort ist nicht mehr viel los, von ein paar einsamen Bummlern abgesehen. Er geht auf die Schloßbrücke, wandert ganz hinaus bis zum Kopf, wo die hell strahlenden Laternen der Promenade die Sicht auf die nächtliche Förde nicht mehr beeinträchtigen. Lichter funkeln über der weiten Wasserfläche, rote und grüne Positionslampen bewegen sich wie Glühwürmchen, schieben sich langsam durcheinander, gelbe Punkte leuchten da und dort auf und erlöschen wieder. Ankerlaternen spiegeln sich im Wasser, weit dahinter glimmen Lichter an Land. Vor der Holtenauer Schleuse blinken die Leuchtfeuer der Kanaleinfahrt, und der Leuchtturm vor Friedrichsort schickt seine weißen Blitze rundum. Jenseits des Fahrwassers liegen die Kriegsschiffe, massige schwarze Silhouetten mit langen Reihen leuchtender Bullaugen.
Über den Werften am Ostufer wabert rötliches Glühen, der Feuerschein aus den Schmieden und Glühöfen, in denen Tag und Nacht gearbeitet wird. Der ferne Lärm der Niethämmer und Kräne dringt bis zu ihm herüber. Das Wettrüsten zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich ist in vollem Gange.
London, Kentish Town, 16. Oktober 1911, Montag
Hartnäckiges Klopfen an der Tür weckt Drummond auf. Schlaftrunken angelt er die Uhr vom Nachttisch, während er die Beine aus dem Bett schwingt. Es ist zehn Minuten nach drei Uhr, mitten in der Nacht, gottverdammt! Was, zum Teufel, ist los? Er steigt in seine Hose, streift das Hemd über, ohne es zuzuknöpfen, und stolpert zur Tür. Er entriegelt sie und sieht sich einem Sergeant der Metropolitan Police gegenüber. Der Mann salutiert und sagt: » Sir, entschuldigen Sie, Sir, aber Inspector Shiel schickt mich. Sie möchten gleich mitkommen, wenn Sie so freundlich sein wollen!«
» Was ist denn los, Sergeant? Ist etwas passiert?«
» Weiß nicht, Sir, aber es scheint sehr eilig zu sein!«
» Gut, warten Sie. Ich bin sofort fertig.« Drummond kleidet sich hastig an. Dann folgt er dem Sergeant die Treppe hinunter. Es regnet, aber nicht allzu stark. Vor dem Haus wartet ein Automobil, besetzt mit zwei Constables. Er hat kaum den Schlag hinter sich geschlossen, als der Wagen schon losfährt, in die Kentish Town Road einbiegt und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit in Richtung City rast. Die Straßen sind um diese Zeit fast leer. Sie begegnen nur einem frühen
Weitere Kostenlose Bücher