Verdeckt
gründlich den Appetit. Nach einer Autopsie etwas zu essen, machte ihr nichts aus. Damit hatte sie nie Probleme gehabt. Aber das hier war etwas anderes.
Jack starrte ihr Sandwich düster an. Die senkrechten Linien zwischen seinen Augen verstärkten sich dabei noch. Sie fragte sich, ob er ihr Brot auch noch haben wollte oder ob er irritiert war, weil sie so wenig aß.
»Wie oft haben Sie es mit solchen Situationen zu tun?«, fragte Jack.
»Was meinen Sie?«
Serienkiller?
»Wie eben in Ihrem Büro. Die Eltern.«
»Oh.« Einen Augenblick lang dachte Lacey stumm an Mr Spencers schmerzerstarrtes Gesicht. »Eher selten. Das gehört nicht zu meinem Aufgaben. Normalerweise kümmert mein Vater sich um die Hinterbliebenen.«
»Eines der Brandopfer war die Tochter der beiden, nicht wahr? In den Nachrichten wurde gestern etwas von dem Feuer gesagt.«
Mit ihrem Nicken verstieß Lacey gegen sämtliche Vorschriften. Sie nahm einen Schluck von der Schokolade, die plötzlich fad schmeckte. »Sie war eine der beiden Toten.« Plötzlich hatte Lacey den Geruch des verbrannten Fleisches wieder in der Nase. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie fragte sich, was Jack sah, wenn er sie anschaute.
Eine emotionslose Gerichtsmedizinerin?
»Sie haben die Sache mit den Eltern wirklich gut gemacht.«
Bis zu dem Augenblick, in dem ich davongerannt bin.
Lacey sah zu Boden und schüttelte den Kopf. »Ich habe doch gar nichts getan.«
Jack antwortete nicht. Sie schwiegen so lang, dass die Stille fast greifbar wurde.
»Was ist an dem Abend damals passiert?«, fragte Jack schließlich.
Lacey zupfte am Rand ihres Schokoladenbechers herum und wich seinem Blick aus. Sie wusste, dass er nicht von dem Brand in der vergangenen Nacht sprach. Er redete vom eigentlichen Grund seines überraschenden Besuchs bei ihr.
»Weshalb wollen Sie das wissen?« Sie zwang sich, ihn anzusehen. Warum hatte sie sich bloß auf dieses Gespräch eingelassen?
Er sah sie mit festem Blick an. »So viele Tote. Es ist wie ein Strudel, der meinen Namen einsaugt, und ich suche den Grund dafür. Ich brauche Informationen über die Vergangenheit, damit ich mir ein Bild davon machen kann, was jetzt gerade passiert. Und ich dachte mir, Sie könnten mir dabei helfen.«
Lacey nickte bedächtig. Sie verstand seine Beweggründe. Es war Jahre her, seit sie jemandem von den Ereignissen jenes Abends erzählt hatte. Ein paar Psychologen, ihre Eltern und zwei enge Freundinnen waren die einzigen Menschen, die die Geschichte kannten. Inzwischen war viel Zeit vergangen und ein unerklärlicher Drang, ihm ihre Last vor die Füße zu werfen, ließ sie den Mund aufmachen.
»Suzanne und ich waren auf dem Weg zu einem Restaurant. Wir wollten uns dort nach dem Wettkampf mit den anderen aus dem Team treffen. Das Lokal war nur ein paar Straßen von unserem Hotel entfernt. Unsere Trainer fanden nichts dabei, uns in der Stadt herumlaufen zu lassen, so lang wir nicht allein loszogen.«
Lacey schluckte.
»Als wir eine Gasse hinter dem Hotel überqueren wollten, kam ein Auto. Wir blieben stehen, um es vorbeizulassen, doch der Fahrer winkte uns weiter. Es war ziemlich dunkel. Ich konnte nicht viel erkennen. Nur seine Umrisse und dass er uns zuwinkte. Wir überquerten also die Gasse direkt vor dem Wagen und gingen Richtung Restaurant.«
»Sie haben die Person im Fahrzeug also nicht richtig gesehen?«
»Erst später. Ich hörte, wie eine Autotür sich öffnete und schaute mich um, weil ich es seltsam fand, dass der Motor noch lief.«Sie hatte Mitleid in Jacks Augen erwartet. Doch sie sah nur volle Konzentration und Aufmerksamkeit.
»Er rannte auf uns zu und stürzte sich sofort auf mich. Ich fiel auf den Bauch, er lag auf meinem Rücken, und ich schrie Suzanne an, sie solle weglaufen. Sie blieb.« Lacey wischte sich unwirsch über die Augen. Die unkontrollierbare Nässe ärgerte sie. »Sie trat auf ihn ein, zerrte an ihm herum und schrie, er solle mich loslassen. Das war dumm von ihr! Sie hätte wegrennen und Hilfe holen sollen!«
»Wären Sie denn an ihrer Stelle weggerannt?«
Lacey schüttelte widerstrebend den Kopf. Sie hielt dem Blick seiner grauen Augen stand. Sie hatte erst nach Monaten akzeptieren können, dass sie im umgekehrten Fall ebenso geblieben wäre und versucht hätte, Suzanne zu helfen. Doch das machte den Schmerz nicht erträglicher. Und es linderte nicht den Zorn auf ihre tote Freundin, weil sie so leichtsinnig gewesen war. Lacey wischte sich die feuchte Nase mit der Serviette ab.
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