Verdeckt
Ihr Bauch zog sich noch einmal schmerzhaft zusammen, doch sie sprach weiter.
»Er hat sie am Knöchel gepackt und umgerissen. Er war so groß und kräftig. Er konnte mich am Boden halten und gleichzeitig Suzanne umwerfen. Es gelang mir, mich auf den Rücken zu drehen. Ich habe ihn in den Arm gebissen und wollte ihm das Knie in den Unterleib rammen. Aber er kniete sich auf meine Brust und schlug mir auf die Nase.« Sie schüttelte sich. »Ich kann das widerliche Knacken immer noch hören. Dann bekam ich wegen seines Gewichts und wegen des Blutes, das mir in den Rachen lief, keine Luft mehr. Ich weiß nicht, was Suzanne in diesem Moment mit ihm gemacht hat, aber er wurde fast rasend. Er sprang von mir herunter und packte sie an den Haaren. Ich rollte mich zur Seite, lag einfach nur da und versuchte, wieder Luft zu kriegen.«
Zittrig nahm Lacey einen Schluck Schokolade. Sie brauchte ein bisschen Zeit. »Ich weiß nicht, ob ich …«
»Erzählen Sie weiter.« Jacks Stimme klang fest, aber mitfühlend. Lacey holte Luft. Seine Ruhe gab ihr Kraft.
»Ich würgte und spuckte Blut. Ich hörte Suzanne schreien, konnte mich aber nicht bewegen. Noch nie zuvor hatte mich jemandabsichtlich geschlagen«, flüsterte Lacey, die Augen fest an den Becher geheftet.
»Plötzlich hörte Suzanne auf zu schreien. Sie war auf einmal ganz still. Erst dieses ohrenbetäubende Kreischen und dann von einer Sekunde zur anderen gar nichts mehr. Das machte mir Angst. Ich rollte mich auf den Bauch, streckte blind die Hände aus und packte, was ich kriegen konnte. Ich erwischte sie am Knöchel. Er versuchte, sie hochzuheben, und sie war ganz schlaff. Ich weiß nicht mal, ob sie geatmet hat oder nicht. Aber mir war klar, dass ich sie festhalten musste, weil sie sonst verschwinden würde. Es war wie ein Tauziehen. Ich zerrte ihren Fuß an meine Brust, hielt ihn mit aller Kraft fest und drückte die Augen zu. Denn plötzlich wusste ich ganz genau: Wenn ich losließe, wäre sie tot.« Lacey blickte auf.
Jacks Augen hatten sich geweitet.
»Er trat mir ins Gesicht. Ziemlich kräftig. Plötzlich hatte ich noch mehr Blut im Mund, ich hustete und würgte. Es schmeckte scheußlich, es war dickflüssig und ekelhaft. Aber ich ließ Suzanne nicht los. Ich drücke mein Gesicht an ihr Bein und hielt sie nur noch fester.«
»Und was ist dann passiert?«
»Er trat mir immer wieder gegen den Kopf, versuchte, mich zum Loslassen zu bewegen. Ich weiß nicht, wie oft er das machte. Als er endlich aufhörte, glaubte ich, wir hätten es geschafft; er würde abhauen und es wäre vorbei. Dann hatte ich plötzlich das Gefühl, mein Bein würde explodieren. Das war der unbeschreiblichste Schmerz, den ich je gespürt habe. Schlimmer als mein zerschlagenes Gesicht und schlimmer als damals, als ich mir das Schlüsselbein gebrochen habe. Er trat auf mein Knie und ich ließ los.«
Laceys Atem ging stoßweise. Sie spürte Phantomstiche im Bein. DeCosta hatte ihr das Schienbein kurz unterhalb des Knies zertrümmert. Ihr fiel auf, dass Jack blass geworden war und sich den Oberschenkel rieb. Er ließ sie nicht aus den Augen.
»Er warf sich Suzanne über die Schulter wie eine Puppe und rannte mit ihr zum Wagen. Ich sehe ihre Arme noch über seinen Rücken baumeln wie gebrochene Äste. Dann reißt meine Erinnerungab. Angeblich habe ich im Krankenwagen ständig das Autokennzeichen wiederholt. Aber daran erinnere ich mich nicht.«
Laceys Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Sie wehrten sich gegen das Adrenalin, das ihre Adern flutete, denn sie wollte ruhig wirken – Jack Harper nicht zeigen, wie aufgewühlt sie war. Dass ihre Erinnerung abgerissen sei, hatte sie nur gesagt, weil sie das grauenhafte Entsetzen und das Gefühl, versagt zu haben, nicht beschreiben konnte, das sie gepackt hatte, als sie in der schummrig beleuchteten Seitenstraße versucht hatte, Suzanne nicht aus den Augen zu verlieren und mit schierer Willenskraft wieder zu sich zurückzuholen. Lacey hatte keine Worte für den schwarzen Vorhang, der sich über sie gesenkt hatte, nachdem der Wagen mit durchdrehenden Reifen losgeschossen war. Sie hatte noch einen letzten Blick auf das Kennzeichen zwischen den roten Rücklichtern werfen können. Wie teuflische Augen im Dunkeln.
Der schwarze Vorhang lauerte immer noch auf sie; er glitt über ihre Haut, wenn sie am wenigsten daran dachte.
Sie starrte die hohen Tannen vor dem Fenster an und saugte ihre eisige Schönheit auf, um die Erinnerungen einzufrieren und die
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