Verderbnis
hochziehen. Auf dem Boden zu Janices Füßen stand ein unberührter Becher Tee, und daneben lag eine Hardcover-Ausgabe von À la recherche du temps perdu in der Plastikschutzhülle einer Bibliothek. »Ist das nicht dieser Schwierige?«, fragte er nach einer Weile. »Proust?«
»Meine Schwester hat es gefunden. In irgendeiner Sonntagszeitung, in den Top Ten der Bücher, die man in einer Krise lesen soll. Entweder das oder Khalil Ghibran.«
»Und ich wette, Sie können keins von beiden lesen.«
Sie senkte den Kopf und legte einen Finger an die Nasenspitze. So verharrte sie fast eine Minute und konzentrierte sich. »Natürlich kann ich das nicht.« Sie nahm die Hand weg und schüttelte sie, als wäre sie schmutzig. »Irgendwie warte ich erst mal darauf, dass das Schreien in meinem Kopf aufhört.«
»Die Ärzte sind ziemlich aufgebracht. Sie hätten das Krankenhaus nicht einfach so verlassen dürfen. Aber Sie sehen ganz okay aus. Besser, als ich dachte.«
»Nein, das stimmt nicht. Das ist gelogen.«
Er zuckte die Achseln. »Ich muss Sie um Verzeihung bitten, Janice. Man hat Sie im Stich gelassen.«
»Ja, ich hab das getan. Ich hab mich im Stich gelassen. Und Emily.«
»Im Namen der Polizei möchte ich mich für Mr. Prody entschuldigen. Er hätte seine Arbeit tun müssen und überhaupt nicht hier sein dürfen. Sein Verhalten war inakzeptabel.«
»Nein.« Sie lächelte gequält. Ironisch. »An Pauls Verhalten war nichts inakzeptabel. Inakzeptabel ist die Art, wie Sie diese Sache behandeln. Und dass mein Mann eine Affäre mit Pauls Frau hat. Das ist unangebracht . Wirklich absolut und ganz und gar unangebracht.«
»Wie bitte –?«
»Ja.« Sie lachte rau und hart. »Ach, wussten Sie das nicht? Mein wundervoller Ehemann fickt Clare Prody.«
Caffery wandte sich zur Seite und sah in den Himmel. Gern hätte er geflucht. »Das ist …«, er räusperte sich, »… schwer . Für uns alle. Das ist schwer.«
»Schwer für Sie? Dann versuchen Sie es mal damit, dass meine Tochter weg ist. Versuchen Sie es mal damit, dass mein Mann, seit sie weg ist, kein einziges beschissenes Wort mehr mit mir geredet hat. Das« –, sie hielt ihm den erhobenen Zeigefinger entgegen und hatte Tränen in den Augen –, »das ist beschissen schwer. Dass mein Mann nicht mehr mit mir geredet hat. Oder wenigstens Emilys Namen ausgesprochen hat. Er kann ihren Namen nicht mehr aussprechen.« Sie ließ die Hand fallen und starrte eine Zeit lang auf ihren Schoß. Dann nahm sie den Hasen und presste ihn an die Stirn. Fest. Als könnte der Druck verhindern, dass sie weinte.
Die Assistenzärztin im Krankenhaus hatte gesagt, es sei merkwürdig, dass Mund und Kehle frei von den Blasen seien, die man bei Gas erwartet hätte. Sie wussten immer noch nicht, mit welcher Substanz Moon sie außer Gefecht gesetzt hatte. Mit Terpentin getränkte Lappen hatten in mehreren Zimmern gelegen und die Wohnung mit ihren beißenden Dämpfen erfüllt. Aber von Terpentin waren sie nicht alle bewusstlos geworden.
»Es tut mir leid.« Sie wischte sich über die Augen. »Entschuldigen Sie – ich wollte nicht … Es ist nicht Ihre Schuld.« Sie hielt den Hasen an die Nase und atmete seinen Geruch ein. Dann zog sie den Kragen ihres Pullovers auf und schob ihn hinein, als wäre er ein Lebewesen, das Körperwärme brauchte. Sie behielt die Hand im Pullover und bugsierte das Stofftier unter ihre Achsel. Caffery ließ den Blick durch den Garten schweifen. Kupferrotes Laub war in der Ecke, wo hinter der niedrigen Hecke die Felder begannen, zu einem Haufen zusammengerecht. Ein Spinnennetz zitterte sacht in dem leichten Wind, der aufgekommen war und den Geruch von Mist über die Felder trug. Caffery betrachtete das Netz und stellte sich vor, wie es morgen früh von Reif überzogen sein würde. Er dachte an den Schädel unter dem Laken. An die staubige, gelblich braune Substanz, die das Tuch befleckt hatte.
»Janice, ich habe versucht, mit Cory zu sprechen. Er nimmt meine Anrufe auch nicht an. Aber jemand muss ein paar Fragen beantworten. Tun Sie mir den Gefallen?«
Janice seufzte. Sie fasste ihr Haar und schlang es im Nacken zu einem Knoten zusammen. Dann fuhr sie mit beiden Händen über ihr Gesicht. »Fragen Sie.«
»In Ihr Haus ist nie eingebrochen worden, Janice?« Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und notierte Datum und Uhrzeit. Aber das Notizbuch war nur ein Requisit. Er würde jetzt nichts aufschreiben – das käme später. Das Buch half ihm, sich zu
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