Verderbnis
dagelassen hatte. Sie fror und zitterte am ganzen Leib. Das Fleisch in dem Sandwich triefte vor Fett und schmeckte pappig; außerdem enthielt es winzige Sehnen- und Knorpelstückchen. Sie musste jeden Bissen mit einem Schluck Wasser durch die wunde Kehle spülen.
Prody war tot. Daran gab’s keinen Zweifel. Zunächst hatte sie zugesehen, wie das Seil hin- und herschwang und eine Narbe im schleimigen Moos an der Schachtwand hinterließ. Das hatte fünfzehn Minuten gedauert, bis er am oberen Rand des dreißig Meter tiefen Schachts angekommen war. »Ich gehe ein Stück weg«, hatte er heruntergerufen. »Hier ist immer noch kein Netz.«
Natürlich ist da keins, dachte sie verbittert. Natürlich nicht. Aber sie hatte sich nur die Lippen geleckt und geantwortet: »Okay. Viel Glück.«
Und das war’s gewesen.
Da oben musste ihm etwas zugestoßen sein. Sie wusste, wie es am Luftschacht aussah. Vor Jahren war sie bei einer Übung dort gewesen. Sie erinnerte sich an Wald, Trampelpfade, grasbewachsene Lichtungen und undurchdringliches Dickicht. Er dürfte erschöpft gewesen sein. Wahrscheinlich hatte er sich oben erst mal hingesetzt, um sich von dem Aufstieg zu erholen. Ein leichtes Opfer für Marthas Entführer. Und jetzt ging der Tag zu Ende. Der große, kreisrunde Fleck Tageslicht, der durch den Schacht herabfiel, war langsam über den Kanal gewandert, und mit ihm die Schatten der Pflanzen. Er war schmaler geworden und lag jetzt als unregelmäßiger Streifen auf der Schachtwand. Die Schatten im Tunnel liefen ineinander, und wenn sie durch das Loch hinausschaute, konnte sie die Ecken des Tunnels nicht mehr erkennen, und auch kaum noch Marthas Schuh.
Prody hatte nicht gut auf den Schuh reagiert. Als Verkehrspolizist war er bei zahllosen schrecklichen Unfällen als Erster vor Ort gewesen. Eigentlich sollte er durch nichts zu erschüttern sein, aber irgendetwas an dem Schuh hatte sogar ihn schockiert.
Sie hob den Arm und betrachtete ihre Hand. Ihre Finger waren weiß und blau gefleckt – erste Anzeichen einer Unterkühlung. Das Zittern, das ihren ganzen Körper schüttelte, würde nicht ewig dauern. Es würde aufhören, wenn der Tod näherrückte. Sie knüllte das Zellophan zusammen und stopfte es in die Flasche. Es gab kaum noch Licht. Wenn sie hier rauskommen wollte, musste sie jetzt handeln. Sie hatte eine Stunde lang im Schlick gewühlt und einen alten Grubenstempel aus Eisen gefunden. Er war von Schleim überzogen, aber nicht allzu rostig. Sie hatte ihn so aufgestellt, dass die Kopfplatte unter der Luke saß. Einen starken Sechs-Zoll-Nagel, den sie ebenfalls gefunden hatte, konnte sie in die Windenmechanik schieben. In den letzten zwei Stunden hatte sie den Grubenstempel mühsam unter die Luke geklemmt. Sie wollte versuchen, die Winde, die obendrauf stand, herunterzukippen. Und was dann? Durch den Schacht nach oben klettern und sich abknallen lassen wie ein Soldat im Ersten Weltkrieg, der den Kopf aus dem Schützengraben streckte? Aber das wäre immer noch besser, als hier unten zu erfrieren.
Hey? Weißt du, wie man Gott zum Lachen bringt? Man macht einen Plan .
Sie stand auf. Ihre Knie schmerzten. Müde steckte sie die Flasche in die Netztasche ihres Rucksacks und griff dann nach dem Nagel, um ihn in die Windenmechanik zu schieben und den Stempel hochzudrehen.
Der Nagel war weg.
Er hatte auf dem Sims gelegen, gleich hier neben ihr. Hektisch fuhr sie mit den Händen über Nieten und Schleim. Eine halbe Stunde hatte sie gebraucht, um diesen Nagel im Schlamm auf dem Boden der Schute zu finden. Sie wühlte in ihrem Rucksack nach der Helmlampe und zog sie hervor. Der Nagel fiel mit heraus. Klirrend landete er auf dem Sims.
Wie versteinert starrte sie den Nagel an. Er war im Rucksack gewesen. Aber sie hatte ihn auf den Sims gelegt. Sie erinnerte sich, dass sie mit Bedacht entschieden hatte, ihn dort abzulegen. Oder wusste sie es doch nicht mehr so genau? Sie legte eine Hand an die Stirn, und einen Moment lang war ihr schwindlig. Sie war sich ganz sicher, dass sie ihn auf den Sims gelegt hatte. Das bedeutete, dass ihr Gedächtnis Ausfälle hatte. Ein weiteres Symptom der Unterkühlung, die nach und nach alle Systeme erfasste.
Mit tauben Fingern hob sie den Nagel auf. Sein Durchmesser war ein wenig kleiner als der des Lochs in der Windenmechanik, und so konnte sie ihn mühelos hineinschieben. Sie hatte Kerben in den Handflächen, die der Nagel beim letzten Mal hinterlassen hatte. Sie ignorierte den Schmerz, als sie
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