Verderbnis
jetzt an die letzten sechs Tage dachte, sah er sie hinter sich ausgebreitet wie einen Weg. Er sah jede verschwendete Sekunde, jedes Nachlassen der Konzentration, jede Tasse Kaffee, für die er Zeit gehabt hatte. Jeden Gang aufs Klo. Alles, was von der Zeit abgezogen werden musste, die Martha vielleicht noch zu leben hatte. Er legte die Stirn an die Seitenscheibe und starrte hinaus. An diesem Morgen hatte Ted Moon versucht, sich an demselben Baum zu erhängen wie seine Mutter. Jetzt lag er im Krankenhaus. Konnte es noch schlimmer kommen?
Turner fuhr auf den Parkplatz eines Pubs am östlichen Portal des Sapperton-Tunnels. Es wimmelte von Polizei: Hundewagen, Spurensicherungswagen, Wagen der Unterstützungseinheiten. Ein Hubschrauber der Luftüberwachung knatterte über ihnen. Turner zog die Handbremse an und drehte sich mit ernstem Gesicht zu Caffery. »Boss. Am Ende eines Tages macht meine Frau immer das Abendessen für mich. Wir setzen uns hin, öffnen eine Flasche Wein, und dann fragt sie mich, was in der Arbeit so passiert ist. Was ich jetzt wissen möchte, ist: Werde ich es ihr erzählen können?«
Caffery spähte durch die Frontscheibe in den Nachmittagshimmel, der an die Wipfel des Waldes stieß, und beobachtete den Heckrotor des Hubschraubers. Die Entfernung zwischen dem Parkplatz und den Bäumen betrug ungefähr fünfzig Meter. Man sah die verschwommene weiße Linie des inneren Absperrbandes, das sich träge im Wind hob. Caffery lehnte sich wieder zurück. »Ich glaube nicht, Kollege«, sagte er leise, »dass sie hiervon etwas wissen will.«
Sie stiegen aus, liefen an den Leuten auf dem Parkplatz vorbei und ließen sich von der Aufsicht an der äußeren Absperrung registrieren. Der Absperrbereich war riesengroß und der Weg weit; über einen zerfurchten Pfad unter regennassen Bäumen ging es vorbei an dem fünfsprossigen Gatter, das Prody – verfolgt von zwei Polizeistreifenwagen – niedergewalzt hatte, bis zu der Stelle, an der er den Crash gehabt hatte und zu Fuß weitergerannt war. Sie gingen schweigend nebeneinanderher. Der Ort, wo Prody an dem Abend, als er Martha entführt hatte, den Yaris der Bradleys abstellte, war nur eine Viertelmeile entfernt. Du kennst diese Gegend, dachte Caffery, als sie den Trittplatten der Spurensicherung in den Wald hinein folgten. Und du hältst dich in diesem Augenblick nicht weit weg von hier auf. Du kannst zu Fuß nicht sehr weit gekommen sein.
Als sie an der Unfallstelle eintrafen, kreiste der Hubschrauber nicht mehr über der Gegend, sondern schwebte ein paar hundert Meter weiter südlich über einem dicht bewaldeten Gelände. Caffery blickte zu ihm hinauf und erkannte seine Position. Er fragte sich, was er da im Visier hatte und wann man ihn informieren würde. Er hielt seinen Ausweis hoch und duckte sich, gefolgt von Turner, unter der inneren Absperrung hindurch. Skye Stephensons Allradwagen stand allein auf einem kleinen, mit Flatterband umzäunten Gelände. Caffery steckte den Ausweis wieder ein, blieb einen Moment lang stehen und betrachtete die Szenerie. Er hörte in sich hinein und versuchte, sein Herz ein wenig zu beruhigen.
Der Wagen hatte eine dunkle, fast kirschrote Farbe. Die Seiten waren voll verkrustetem Schlamm, der durch Prodys hektische Raserei auf dem schmalen Weg hochgespritzt war. Zu diesem Zeitpunkt wusste er bereits, dass er verfolgt wurde. Der rechte Kotflügel war eingedrückt, die Lauffläche des Reifens aufgerissen, sodass man den Stahlgürtel darunter sehen konnte. Die Beifahrertür und die beiden hinteren Türen standen offen. Von der Schwelle an der hinteren Beifahrerseite hing eine Decke herunter und verband den Wagen mit einem umgekippten Babysitz. Er war blau und mit gelben Ankern bedruckt. Babysachen lagen überall verstreut. In der Wölbung des Sitzes war ein kleiner Arm sichtbar, eine geballte Faust.
Der Leiter der Spurensicherung blickte auf. Er erkannte Caffery, kam ihm entgegen und zog dabei die Kapuze vom Kopf. Sein Gesicht war aschfahl. »Der Kerl ist krank.«
»Ich weiß.«
»Die Kollegen, die hinter ihm her waren, nehmen an, dass er auf den letzten zehn Meilen von seiner Verfolgung wusste. Er hätte das Fenster aufmachen und den Babysitz rauswerfen können. Hat er aber nicht getan. Er hat ihn im Wagen behalten.«
Caffery beäugte den Sitz. »Warum?«
»Er hat das verdammte Ding im Fahren auseinandergerissen. Schätze, er war wütend auf uns.«
Sie gingen zu dem Sitz. Die lebensgroße Babypuppe, der Skye Charlies
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