Verderbnis
Wald lichter wurde und der Himmel zwischen den Bäumen durchschimmerte. Vor ihr lag eine Schneise. Sie sah einen blau-weißen Streifen Flatterband. Das musste die innere Absperrung sein. Jetzt erkannte sie auch den Logbuchführer; er stand seitlich zu ihr – breitbeinig und mit verschränkten Armen – und blinzelte hinauf zum Hubschrauber. Er wirkte anders als der vorige – größer, wichtiger – und trug Schutzausrüstung.
Keuchend blieb sie stehen.
Er wandte den Kopf zu ihr um und musterte sie mit eisiger Miene. »Sie dürfen sich hier nicht aufhalten. Wer sind Sie?«
»Bitte«, begann sie. »Bitte …«
Er trat auf sie zu. Als er sie fast erreicht hatte, kam Nick nach Luft schnappend angerannt. »Alles okay. Ich bin von der MCIU . Das sind Angehörige.«
Er schüttelte den Kopf. »Dürfen trotzdem nicht durch. Hier haben nur autorisierte Personen Zutritt, und Sie stehen nicht auf meiner sehr, sehr kurzen Liste.«
Rose trabte heran. Sie war puterrot und atmete schwer. »Ich bin Rose Bradley, und das ist Janice Costello. Es sind unsere kleinen Töchter, die er entführt hat. Bitte – wir machen keine Schwierigkeiten. Wir wollen nur wissen, was los ist.«
Der Officer sah sie lange und nachdenklich an. Er betrachtete die Stretchhose und das rosa Halstuch, die paspelierte Wolljacke und das Haar, das feucht war von Schweiß. Dann fiel sein Blick auf Janice – vorsichtig und wachsam, als käme sie von einem anderen Planeten.
»Bitte«, flehte Rose, »schicken Sie uns nicht weg.«
»Schicken Sie sie nicht weg«, wiederholte Nick, und auch ihre Stimme hatte einen beschwörenden Unterton. »Nicht, bitte. Das haben sie nicht verdient, nach allem, was sie durchmachen mussten.«
Der Officer legte den Kopf in den Nacken und starrte nach oben, in die Äste über ihm. Er atmete langsam ein und aus, als müsste er eine komplizierte Rechenaufgabe lösen. Nach einer Weile senkte er den Kopf, streckte die Hand aus und deutete auf ein Dornengestrüpp. »Da drüben.« Das Gestrüpp bildete ein natürliches Versteck, in dem jemand, der sich duckte, unsichtbar wäre. »Sie könnten da durchgekommen sein, und ich hätte Sie nicht bemerkt. Aber« – er hob einen Finger und sah Nick fest in die Augen – »verarschen Sie mich nicht, okay? Nutzen Sie meine Freundlichkeit nicht aus. Ich kann besser lügen als Sie, das können Sie mir glauben. Und seien Sie leise. Bitte, seien Sie um Gottes willen leise.«
77
D ie Luftschächte über dem Tunnel reichten an manchen Stellen mehr als dreißig Meter in die Tiefe. Das entsprach ungefähr der Höhe eines zehnstöckigen Bürogebäudes. Die Ingenieure des 18. Jahrhunderts hatten den Bodenaushub um die Schächte herum aufgehäuft, sodass sie aussahen wie riesige Ameisenhügel – seltsame, trichterförmige Hügel mit einem Loch in der Mitte. Die meisten waren von Bäumen und Büschen bewachsen und wenig bemerkenswert. Dieser spezielle Luftschacht hingegen war alles andere als unauffällig.
Er lag auf einer natürlichen Lichtung, umgeben von Buchen und Eichen im Schmuck des letzten Herbstlaubs. Krähen krächzten auf den kahlen Ästen der Wipfel, und der Boden war bedeckt mit einer dicken Schicht kupferfarbener Blätter. Auf dem Gipfel des Hügels gähnte, von unten unsichtbar, das Schachtloch, dessen Ränder von den teerschwarzen Spuren der Explosion bedeckt waren. Die Rußflöckchen schwebten immer noch aus dem Schacht; über den Bäumen, wo die Luft sich abkühlte, sanken sie langsam wieder herab und legten sich auf Bäume und Gras. Sie bedeckten alles – auch den weißen Sprinter-Van des Seilzugangsteams.
Mehr als zwanzig Leute zertrampelten das Gras: Polizisten in Zivil und in Kampfanzügen und andere, die Kletterhelme und Gurtgeschirre trugen. Ein Hundeführer brachte einen Deutschen Schäferhund, der immer noch an der Leine zerrte, zum Hundewagen. Caffery fiel auf, dass sich anscheinend niemand – ganz gleich, welche Aufgabe er hatte – gern lange am Rand des Luftschachts aufhielt. Die beiden Polizisten, die mit Seitenschneidern den Sicherungszaun vollends entfernten, arbeiteten schnell und zogen sich, nachdem sie fertig waren, sofort wieder zurück. Der Grund dafür war nicht nur das Wissen, dass dieser Schacht senkrecht in die Erde hinabführte, sondern auch das Geräusch, das aus der Tiefe drang. Nachdem der Rettungshubschrauber gelandet war und den Motor abgestellt hatte, hallte dieses Geräusch gespenstisch aus der gähnenden Tiefe herauf und erfüllte
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