Verderbnis
drückte das Gesicht ans Fenster. Klopfte an die Scheibe. Er reagierte nicht, saß nur da und blickte starr geradeaus. » Jack .«
Immer noch keine Reaktion. Er machte einen so niedergeschlagenen Eindruck, dass man denken konnte, er werde gleich anfangen zu weinen. Er trug eine kugelsichere Weste über Hemd und Krawatte, und an seinen Ärmeln klebte Blut. Sie schob das Gesicht durch die Fensterscheibe, glitt sanft mit dem Körper durch das milchig durchscheinende Glas, bis sie im Wagen war und die stickige Luft riechen konnte, eine Mischung aus Aftershave, Schweiß und Erschöpfung. Sie schmiegte ihre Lippen an sein Ohr und spürte seine Haare. »Sie ist unter dem Tunnelboden«, flüsterte sie. »Er hat eine Grube gegraben. Hat sie in eine Grube gelegt und mit Wellblech zugedeckt. In eine Grube , Jack. In eine Grube.«
Caffery machte mit seinem Finger am Ohr eine kreiselnde Bewegung.
»In eine Grube, hab ich gesagt. Eine Grube im Boden des Tunnels.«
Caffery ging Prodys Keuchen nicht aus dem Kopf. Sein Todesröcheln. Es wollte nicht verschwinden. Klang immer noch in seinem linken Ohr. Er stocherte darin herum und rieb es. Aber es war, als säße jemand dicht neben ihm und zischte ihm ins Ohr.
»Eine Grube.« Das Wort kam ihm plötzlich in den Sinn. »Eine Grube.«
Turner warf ihm einen Seitenblick zu. »Was, Boss?«
»Eine Grube. Eine Grube . Eine gottverdammte Grube.«
»Was ist damit?«
»Keine Ahnung.« Er beugte sich vor und schaute aus dem Fenster auf die Straßenmarkierung. Die Sonne blendete ihn. Sein Hirn kam wieder in Bewegung. Schnell jetzt, sehr schnell. Eine Grube. Er prüfte das Wort in seinem Mund und fragte sich, warum es so vollendet geformt in seinem Kopf aufgetaucht war. Eine Grube . Ein Loch im Boden. In dem man etwas verstecken konnte. Suchmannschaften waren auf einen Dreihundertsechzig-Grad-Rundblick trainiert. Darüber war er schon einmal gestolpert. Sie schauten überallhin, nur nicht nach oben . Wie sie nicht nach oben geblickt hatten, um Prody im Tunnel zu finden. Aber nach unten ? Weiter schauen als bis zum Boden unter deinen Füßen? Durch ihn hindurch schauen? Darauf wäre er nie gekommen.
»Boss?«
Caffery trommelte mit den Fingern auf dem Armaturenbrett. »Clare sagt, ihre Söhne hätten eine Heidenangst vor der Polizei.«
»Wie bitte?«
»Irgendwie hat er ihnen eingeredet, die Polizei sei ihr Feind. Das seien die Letzten, an die sie sich wenden könnten.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Was hat das Team beim Abseilen in den Tunnel als Erstes gebrüllt?«
»Als Erstes? Keine Ahnung. Wahrscheinlich ›Polizei!‹. Ja. Das sollen sie doch, oder?«
»Und wo war Prody, als die Teams den Tunnel durchsuchten?«
Turner warf Caffery einen seltsamen Blick zu. »Er war im Tunnel, Boss. Er war bei ihnen.«
»Ja. Und was hat er da die ganze Zeit getan?«
»Er hat …« Turner schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Was meinen Sie? Er starb, nehme ich an.«
»Denken Sie nach. Er atmete . Und zwar laut. So, dass Sie es gehört haben. Niemand konnte diesem Geräusch entkommen. Es hat nicht aufgehört, vom Augenblick der Explosion bis zu dem Moment, wo sie wieder herauskamen. Sie hätten da unten gar nichts anderes hören können.«
»Sie haben den Tunnel abgesucht, Boss. Die Mädchen waren nicht da. Was immer Sie denken, ich hab keine Ahnung, wie Sie darauf kommen.«
»Ich weiß es auch nicht, Turner, aber es wird Zeit, dass Sie wenden und zurückfahren.«
82
J anice wusste nicht, ob ihr Körper das aushalten würde. Knochen und Muskeln fühlten sich an wie Wasser, und der Druck würde ihren Kopf bald explodieren lassen. Sie lehnte am Stamm einer Birke und hielt Roses Hand. Beide starrten ausdruckslos über die Lichtung. Alles schien anders zu sein. Es war nicht mehr der bedrückende, stille Ort, den sie vor einer halben Stunde verlassen hatten. Jetzt wimmelte es um den Schacht herum erneut von Leuten: Polizisten verständigten sich lauthals miteinander, und bereits eingepackte Ausrüstungen wurden hastig noch einmal ausgepackt. Wieder war ein Rettungshubschrauber gelandet und hockte jetzt mit stehendem Rotor auf der Lichtung. Zwei Dreifüße mit Flaschenzügen standen über der Schachtmündung, und zwei Mann waren in den Schacht hinuntergelassen worden. Janice konnte sich ausmalen, wie dort unten im Dunkeln gegraben und panisch hin und her gerufen wurde, aber was sie wirklich nicht mehr ertrug, waren die sorgenvollen Gesichter hier oben. Nick stand nah bei Rose und Janice;
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