Verderbnis
nach vorn gebeugt, um das Radio einzuschalten, als der Wagen losfuhr. Also war sie nicht angeschnallt gewesen. Wurde sie nach hinten geschleudert, als der Carjacker davonbrauste? Er dürfte ja kaum noch einmal angehalten haben, um sie anzuschnallen.
Fast zwanzig Stunden war es her, dass Flea mit Jack Caffery gesprochen hatte. Es dauerte seine Zeit, bis die Buschtrommel eine Neuigkeit von einer Einheit zur anderen übermittelte, aber trotzdem hätte sie inzwischen davon Wind bekommen, wenn Caffery ihren Gedanken aufgegriffen hätte, dachte sie. Was ihr immer wieder durch den Kopf ging, war die Tatsache, dass sie bereits zweimal Gelegenheit gehabt hatte, ihrer Überzeugung, dass die beiden Überfälle zusammenhingen, Nachdruck zu verleihen. Sie stellte sich eine Welt vor, in der ihr Inspector sie nicht einschüchterte, in der sie ihrem Instinkt folgte: Der Entführer wäre schon vor Monaten geschnappt worden und Martha gestern nicht aus der Tiefgarage des Supermarkts verschwunden.
Sie betrat das Haus durch die Garage, die vollgestopft war mit der alten Taucher- und Höhlenforscherausrüstung ihrer Eltern. Alles Dinge, die sie niemals umräumen oder wegwerfen würde. Oben machte sie ihre Stretchingübungen und duschte. Die Heizung in dem verwinkelten alten Haus lief, denn draußen war es richtig kalt. Was dachte Martha gerade? Wann hatte sie begriffen, dass der Mann nicht anhalten und sie aussteigen lassen würde? Ob sie weinte? Nach ihrer Mum rief? Sich jetzt vielleicht vorstellte, dass sie sie und ihren Dad nie wiedersehen werde? Es war schrecklich, dass ein kleines Mädchen sich solche Fragen stellen musste, und nicht fair.
Als Kind hatte Flea ihre Eltern mehr geliebt als alles andere auf der Welt. Dieses knarrende alte Haus – vier Handwerkercottages, die man zu einem zusammengefügt hatte – war das Heim ihrer Familie gewesen. Hier war sie aufgewachsen, und obwohl sie nicht gerade in Geld schwammen, konnten sie gut leben. An den langen, sonnigen Sommertagen hatten sie in dem weitläufigen Garten, der sich terrassenförmig vom Haus weg erstreckte, Fußball oder Verstecken gespielt.
Vor allem war sie geliebt worden, so sehr geliebt. Damals wäre sie gestorben, wenn man sie – wie jetzt Martha – von ihrer Familie getrennt hätte.
Aber das lag alles weit zurück. Mum und Dad waren tot, und ihr kleiner Bruder Thom hatte etwas so Ungeheures getan, dass sie nie wieder einen Bezug zu ihm würde finden können. Nicht in diesem Leben. Er hatte eine Frau getötet. Eine junge, hübsche Frau – so hübsch, dass sie deshalb berühmt geworden war. Nicht dass ihr Aussehen ihr viel geholfen hätte. Jetzt lag sie begraben unter einem Steinhaufen in einer unzugänglichen Höhle eines stillgelegten Steinbruchs, wo Flea sie in einem idiotischen Versuch, die ganze Sache zu vertuschen, deponiert hatte. Reiner Wahnsinn, rückblickend betrachtet. Nicht das, was jemand wie sie – eine normale, bei der Polizei angestellte, Hypothekenzinsen zahlende Person – hätte tun dürfen. Kein Wunder, dass sie diese aufgestaute Wut mit sich herumschleppte. Kein Wunder, dass ihre Augen in letzter Zeit leblos wirkten.
Kurz vor Sonnenuntergang war sie wieder angezogen. Unten in der Küche öffnete sie den Kühlschrank und betrachtete das, was sich darin befand. Mikrowellenmahlzeiten. Mahlzeiten für eine Person. Und ein Zwei-Liter-Karton saure Milch. Wenn sie unerwartet Überstunden machen musste, brauchte sie so viel Milch nicht auf. Sie schloss die Kühlschranktür und lehnte die Stirn dagegen. Wie war es nur dazu gekommen, dass sie jetzt hier allein war – ohne Kinder, ohne Tiere, ohne Freunde? Mit neunundzwanzig lebte sie wie eine alte Jungfer.
Im Eisfach lag eine Flasche Tanqueray-Gin und ein Beutel Zitronenscheiben, die sie am Wochenende eingefroren hatte. Sie mixte sich einen großen Tumbler, wie Dad es getan hätte, mit vier Zitronenscheiben, vier Eiswürfeln und einem Schuss Tonic. Dann schlüpfte sie in eine Fleecejacke und ging mit dem Glas hinaus in die Einfahrt. Hier stand sie gern, trank und betrachtete, wie unten im Tal in der alten Stadt Bath die Lichter angingen. Niemals würde man eine Marley von hier wegbringen. Nicht kampflos.
Die Sonne versank hinter dem Horizont, und orangegelbes Licht legte sich wie riesige Flügel über das Land. Flea hielt die Hand über die Augen und blinzelte. Am Westrand des Gartens standen drei Pappeln. In irgendeinem Sommer hatte Dad etwas an ihnen bemerkt, das ihm eine Riesenfreude
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