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Verderbnis

Titel: Verderbnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Sie ist vor sechs Monaten verschwunden.«
    »Ich wusste nicht, dass sie so hieß, aber ich weiß, wen Sie meinen.«
    »Die Frau – die, von der wir reden – weiß, was aus Misty Kitson geworden ist. Sie hat sie getötet.«
    Der Walking Man hob die Brauen. Seine Augen glitzerten. »Mord?«, fragte er leichthin. »Eine schreckliche Sache. Was für eine unmoralische Frau sie doch sein muss.«
    »Nein. Es war ein Unfall. Sie ist zu schnell gefahren. Das Mädchen, Misty Kitson, ist von einem Feld auf die Straße gelaufen …« Er ließ den Satz unvollendet. »Aber das wissen Sie schon, Sie Scheißkerl. Ich seh’s Ihnen am Gesicht an.«
    »Ich bekomme so manches mit. Ich hab beobachtet, wie Sie den Weg abgegangen sind, den das Mädchen nahm, nachdem es die Klinik verlassen hatte. Immer wieder. In der Nacht, als Sie unterwegs waren, bis die Sonne aufging.«
    »Das war im Juli.«
    »Da war ich da. Als Sie die Stelle gefunden haben, an der es passiert ist – die Schleuderspuren auf der Straße? Da war ich da. Hab Sie beobachtet.«
    Caffery schwieg eine Zeit lang. Egal, was der Walking Man behauptete und wie sehr er es leugnete – wenn man mit ihm zusammensaß, fühlte man sich wie in der Gegenwart Gottes: Er schien der zu sein, der alles sah. Der, der nachsichtig lächelte und sich nicht einmischte, wenn die Sterblichen ihre Fehler machten. Die Nacht mit den Reifenspuren war eine gute Nacht gewesen, eine Nacht, in der sich alles zusammenfügte. Die Frage war nicht mehr gewesen, warum Flea Misty Kitson getötet hatte – lange Zeit wusste Caffery nur, dass sie die Leiche beseitigt hatte –, sondern warum, zum Teufel, sie es nicht einfach klipp und klar gesagt hatte, wenn es ein Unfall gewesen war. Warum sie nicht das nächstbeste Polizeirevier aufgesucht und die Wahrheit gesagt hatte. Wahrscheinlich hätte man sie nicht mal in U-Haft genommen. Und diese Frage quälte ihn immer noch und blockierte ihn auf Schritt und Tritt. Warum hatte sie sich nicht einfach gestellt? »Komisch«, murmelte er. »Für feige hatte ich sie nie gehalten.«
    Der Walking Man hörte auf, sich mit dem Feuer zu beschäftigen. Er ließ sich auf seinem Schlafsack nieder, hielt den Becher mit beiden Händen und legte den Kopf auf einen Holzklotz. Die Ränder seines mächtigen Barts schimmerten rot im Feuerschein. »Das kommt, weil Sie nicht die ganze Geschichte kennen.«
    »Welche ganze Geschichte?«
    »Die Wahrheit. Sie kennen die Wahrheit nicht.«
    »Ich glaube doch.«
    »Ich bezweifle das sehr. Ihre Gedanken haben noch nicht alles erfasst. Es gibt noch eine Ecke, um die Sie nicht gegangen sind. Sie haben nicht mal daran gedacht, ja, Sie sehen gar nicht, dass sie da ist.« Er machte eine kleine Handbewegung, die aussah, als würde er einen komplizierten Knoten binden. »Sie beschützen sie, und Sie sehen noch nicht, was für einen hübschen Kreis das abgibt.«
    »Einen hübschen Kreis?«
    »Das habe ich gesagt.«
    »Versteh ich nicht.«
    »Nein. Sie verstehen es nicht. Noch nicht.« Der Walking Man schloss die Augen und lächelte zufrieden. »Manchen Dingen müssen Sie allein auf den Grund kommen.«
    »Was für Dingen? Was für einen Kreis meinen Sie?«
    Aber der Walking Man lag reglos da, und wieder wusste Caffery, dass er sich über dieses Thema nicht würde ausfragen lassen. Nicht, solange Caffery ihm nicht den Beweis brachte, dass er daran arbeitete. Der Walking Man verschenkte nichts. Das ärgerte Caffery – diese Selbstgefälligkeit. Am liebsten hätte er den Kerl geschüttelt. Etwas gesagt, das wehtat.
    »Hey.« Er beugte sich vor und starrte eindringlich in das lächelnde Gesicht. »Hey. Sollte ich Sie nach dem Fabrikgelände fragen? Sollte ich Sie fragen, ob Sie da einbrechen wollten?«
    Der Walking Man hielt die Augen geschlossen, aber sein Lächeln verschwand. »Nein. Denn wenn Sie mir diese Frage stellten, würde ich sie ignorieren.«
    »Na, ich stelle sie aber trotzdem. Sie haben mir aufgetragen, Ihre Gedanken zu erraten, Sie zu ergründen. Und das tue ich. Diese Anlage existiert seit zehn Jahren.« Er deutete mit dem Kopf auf die Bogenlampen, deren Licht durch die Bäume schimmerte. Den oberen Rand des Stacheldrahtzauns konnte er gerade noch erkennen. Es sah aus wie ein Gulag. »Sie war noch nicht hier, als Ihre Tochter ermordet wurde, und Sie glauben, sie wurde vielleicht hier begraben.«
    Jetzt öffnete der Walking Man die Augen. Er senkte das Kinn und starrte Caffery wütend an. Seine Aggressivität hatte nichts

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