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Verderbnis

Titel: Verderbnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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seine Hände und presste die Fingerknöchel in die Handflächen. »Mir ist vermutlich nie bewusst gewesen, wie sehr es mein Familienleben beeinträchtigt hat. Ich habe Theateraufführungen in der Schule versäumt, Ostereiersuchen … insgeheim glaube ich, dass die Kinder deshalb gelogen haben: Sie wollten mir eine Lektion erteilen.« Er schwieg kurz. »Ein besserer Ehemann hätte ich auch sein können.«
    Janice hob die Brauen. »Freundinnen?«
    »Du liebe Güte, nein. Das nun nicht. Macht mich das zu einem Trottel?«
    »Nein. Es macht Sie …«, sie betrachtete die Bläschen, die in ihrem Glas nach oben stiegen, »… es macht Sie treu. Das ist alles. Sie sind treu.« Es war lange still. Dann strich Janice sich das Haar aus der Stirn. Sie fühlte sich erhitzt vom Prosecco an. »Darf ich … darf ich Ihnen etwas erzählen?«
    »Nachdem ich mich gerade auskotzen durfte? Da könnte ich Ihnen wohl auch einen Augenblick Zeit gewähren.« Er sah auf die Uhr. »Sie haben zehn Sekunden.«
    Sie lachte nicht. »Cory hat eine Affäre. Schon seit ein paar Monaten.«
    Prodys Lächeln verflog, und er ließ langsam die Hand sinken. »O Gott. Ich meine … das tut mir leid.«
    »Und wissen Sie, was das Schlimmste ist?«
    »Nein?«
    »Dass ich ihn nicht mehr liebe. Ich bin nicht mal eifersüchtig, weil er sich mit jemandem trifft. Was mir zu schaffen macht, ist nur die Ungerechtigkeit dabei.«
    »Ein gutes Wort, Ungerechtigkeit. Sie haben alles in etwas hineingesteckt und nichts herausbekommen.«
    Sie schwiegen eine Zeit lang, beide in Gedanken versunken. Die Vorhänge waren noch offen, obwohl es draußen dunkel war. Auf einem Streifen Parkwiese auf der anderen Straßenseite hatte der Wind das herabgefallene Laub zu einer langen Wehe zusammengeschoben. Im Licht der Straßenlaterne sahen die Blätter aus wie winzige Skelette. Janice starrte sie mit leerem Blick an. Sie erinnerten sie an das Laub, das sie im Garten in der Russell Road zusammengeharkt hatten, damals, als sie ein Kind war. Damals, als alles möglich war und es noch Hoffnung gab. Noch so viel Hoffnung in der Welt.

43
    D er Regen hatte wieder angefangen, ein leichter Nieselregen. Schwere, dunkle Wolken hingen über dem Land, so als wollten sie die Nachtluft auf die Erde pressen. Flea war zu Hause. Sie trug ihre Allwetter-Berghaus-Jacke mit hochgezogener Kapuze und schleppte die Höhlenkletterausrüstung ihres Vaters zum Auto.
    Sie wusste nicht, weshalb sie die Luftschächte übersehen hatte. Es war, als hätte sie eine Blockade im Hirn gehabt. Der Tunnel wurde durch dreiundzwanzig Schächte, die senkrecht von der Oberfläche nach unten führten, mit Luft versorgt. Vier endeten im Schutt an der Einbruchstelle, also blieben noch neunzehn in den offenen Abschnitten. Achtzehn hatten sie und Wellard passiert: Zwei waren es auf dem Weg vom östlichen Eingang in der Nähe des Pubs gewesen, sechzehn auf dem längeren Stück vom westlichen Portal her. Wo also befand sich der neunzehnte? Vielleicht hatte sie angenommen, der letzte Schacht münde irgendwo in dem viertelmeilenlangen eingestürzten Abschnitt in den Tunnel. Aber aus den detaillierten Unterlagen, die sie von der Stiftung erhalten hatte, ging klar hervor: Der Kanaltunnel war bis auf vier unter allen Schächten über mindestens zwanzig Schritte in beide Richtungen offen. Also musste sich auch der letzte irgendwo außerhalb der Einbrüche befinden.
    Das konnte nur eines bedeuten: Die letzte Erdwand, auf die sie gestoßen war, nachdem sie sich durch das enge Loch gezwängt hatte, und die den alten Kahn halb verschüttet hatte, war nicht das Ende der langen Einsturzstrecke, sondern ein vereinzelter Einbruch davor. Dahinter verborgen musste noch ein offener Tunnelabschnitt mit einem Luftschacht liegen. Und soweit es sie betraf, konnte die Unterwassersucheinheit nicht behaupten, den Tunnel vollständig durchsucht zu haben, solange sie diesen verborgenen Abschnitt nicht betreten hatten. Sie konnten nicht mit Sicherheit ausschließen, dass der Entführer Martha – oder ihre Leiche – in den Tunnel geschafft hatte.
    Sie würde allein gehen. Das klang verrückt, aber nachdem sie wegen der Tunnelaffäre mit so viel Spott und Kritik bedacht worden war, diente es dem Selbstschutz, die Sache für sich zu behalten, bis sie ein Resultat vorweisen konnte. Sie stopfte ihren Rucksack in den Kofferraum, warf ein Paar Gummistiefel dazu und nahm den Überlebensanzug herunter, der am Deckenbalken der Garage hing. Sie zögerte. Auf dem

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