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Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)

Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)

Titel: Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Böckler
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willst du sie sehen?«
    Rudolf holte die silberne Schatulle aus seinem Jackett, öffnete sie und zeigte Mark die elfenbeinernen Würfel mit den kleinen Diamanten. »Ja, schau sie dir an! Das sind meine kleinen Götter. Jeder hat genau einundzwanzig Augen. Vor allen schwierigen Entscheidungen in meinem Leben habe ich ihren Rat eingeholt.«
    Rudolf legte die aufgeklappte Schatulle auf eine kleine Steinmauer. Mark musste zugeben, dass von den Würfeln mit den funkelnden Diamanten eine magische Kraft auszugehen schien. Diese Würfel also hatten über Leben und Tod seiner Großmutter entschieden, hatten zu seiner Entführung geraten, hatten Alessandros Schicksal besiegelt. Ob Rudolf sie wohl schon hatte, als er die Bilder seines Vaters entwendete, als ihre gemeinsame Mutter Selbstmord beging?
    »So, mein Kleiner, was willst du jetzt tun?« Rudolf hielt grinsend die Hände in die Höhe. »Nichts kannst du tun, gar nichts. Du stehst genauso blöd da wie vorher. Aber irgendwie mag ich dich, weißt du das? Deshalb habe ich auch Alessandro gebeten, dich schonend zu behandeln.«
    »Sehr freundlich von dir, geradezu brüderlich.«
    »Ich habe eben doch einen guten Kern. So, war das jetzt alles, worüber du mit mir sprechen wolltest? Können wir gehen?«
    Mark dachte, dass es noch viel zu bereden gab. Was zum Beispiel hatte Rudolf für ihre Mutter empfunden? War ihm ihr Tod auch egal gewesen? Aber es brachte nichts, mit ihm darüber zu sprechen, das hatten die letzten Minuten offenbart. Moralische Bedenken schienen ihm völlig abzugehen. So etwas wie Mitleid oder Nächstenliebe kannte Rudolf nicht. Er war nur auf sich fixiert, alles andere war Mittel zum Zweck, und der Zweck heiligte die Mittel.
    »Es hat keinen Sinn. Wir können gehen, ja. Das heißt, ich werde noch etwas bleiben. Hau schon ab!«
    Rudolf streckte Mark fordernd die Hand entgegen. »Was macht unsere Vereinbarung? Du wolltest mir doch Geld leihen?«
    »Du hast Nerven. Glaubst du wirklich, du bekommst von mir eine Lira? Umbringen sollte ich dich.«
    »Wer wird denn so grob sein? Also, dann halt nicht. Ich schlage mich schon durch. Übrigens danke ich dir für das Gespräch. Irgendwie fühle ich mich jetzt besser. So ähnlich stelle ich mir das in der Kirche vor. Nach der Beichte werden einem die Sünden vergeben, und das Herz ist wieder rein.«
    »Deine Sünden werden dir nicht vergeben«, erwiderte Mark, »und dein Herz ist nicht rein, wird es niemals sein!«
    »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Rudolf schlug hämisch grinsend ein Kreuz. »Ciao, mein Kleiner. Das war’s. Ich habe heute noch viel vor. Grüße Laura von mir!«
    »Am besten wäre es, du bringst dich um«, flüsterte Mark.
    »Da kannst du lange drauf warten!«
    Rudolf drehte sich um und lief den Weg zurück, den sie gekommen waren. Mark glaubte ihn lachen zu hören. Er sah ihm nach, bis er hinter einer Biegung verschwunden war. Sein Blick fiel auf die kleine Steinmauer vor der Grabkapelle. Die Schatulle war mit rotem Samt ausgeschlagen. Mark schien es, als ob die Diamanten, die in die elfenbeinernen Würfel eingelassen waren, zornig funkelten. Rudolf hatte seine kleinen Götter vergessen.

62
    B eim Betreten des Cafés sah Mark auf die Uhr. Er hatte sich nur um einige Minuten verspätet. Ziemlich lange noch war er nach Rudolfs Abschied auf San Michele herumgelaufen. Er musste zugeben, dass von der Friedhofsinsel eine seltsame Faszination ausging. Auch ohne das vorangegangene Gespräch hätte er dies wohl so empfunden. Die Grabsteine und Engelsstatuen, die Zypressen und Mausoleen blieben nicht ohne Wirkung auf seine ohnehin gedrückte Stimmung. Merkwürdigerweise war ihm jeder Satz von Rudolf wortwörtlich im Gedächtnis haften geblieben. Wie ein Tonband konnte er Rudolfs Aussagen vor- und zurückspulen. Immer wieder hatte er sich angehört, wie Rudolf ohne Hemmungen alle Verdächtigungen bestätigte. Gewiss war diese unerwartete Offenherzigkeit auf die Stresssituation zurückzuführen, in der sich Rudolf zu befinden schien. Aber dass er so unbeschwert alles gestand, damit hätte Mark nie und nimmer gerechnet.
    Mark entdeckte Laura an der Bar. Er nahm sie von hinten in die Arme und küsste sie in den Nacken. Laura merkte sofort, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Ob irgendwas vorgefallen sei, wollte sie wissen. Er erzählte ihr vom überraschenden Zusammentreffen mit Rudolf. Erneut rekapitulierte er das Gespräch in allen Details. Zum Abschluss legte er die Schatulle mit

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