Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
Stimme einen unwirklichen Klang.
»Sie sind Signor Krobat, nehme ich an, Rudolf Krobat, richtig?« Der größere der beiden Männer sah ihn fragend an.
»Richtig, das bin ich, und wer sind Sie?«
»Wir sind von der Guardia di Finanza. Uns liegt ein Ordine di Pignoramento, ein Pfändungsbeschluss, vor. Ihr gesamtes Eigentum ist mit richterlichem Urteil beschlagnahmt. Und Ihnen ist es untersagt, sich in diesem Haus weiter aufzuhalten!« Der Finanzbeamte hielt ein Dokument in die Höhe. »Den Bescheid dürfen Sie gerne mitnehmen.«
Rudolf spürte ein Stechen im Brustkorb. Bekam er jetzt einen Herzinfarkt? Allen Grund dazu hätte er. Die letzten Tage und Stunden waren ein einziger Horrortrip. Erst diese ruinöse Pokerrunde, dann die gesperrten Kreditkarten, der Conte, der ihn mit der Schrotflinte von seinem Weingut vertrieb, und jetzt die Finanzpolizei mit einem Pfändungsbeschluss. Was lief hier ab? Hatte sich plötzlich die ganze Welt gegen ihn verschworen? Oder würde er gleich aufwachen und sich alles als Alptraum erweisen? Nein, das wusste er, alles war real, war grausame Wirklichkeit. Warum gönnte man ihm keine Ruhepause? Er brauchte dringend eine Pause, um sich zu orientieren und wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Der Schweiß lief ihm von der Stirn in die Augen. Rudolf wischte sich mit einem Taschentuch das Gesicht ab. Dann nahm er wortlos den Pfändungsbeschluss entgegen und verließ den Palazzo auf der Straßenseite. Draußen angelangt, musste er sich an der Mauer abstützen. Schwer atmend blieb er einige Sekunden stehen. Der Schmerz in der Herzgegend ließ nach. Dafür nahm das Hämmern hinter den Schläfen weiter zu. Rudolf begann zu laufen. Planlos eilte er durch die verwinkelten Straßen. War das der Campo di San Polo? Er lief über kleine Brücken, eine Gasse führte ihn in einen Innenhof. Rudolf übergab sich hinter einer Statue. Eine verwahrloste Katze sah ihm dabei zu.
Später fand er sich an dem Ponte dell’Accademia wieder, der von Dorsoduro hinüber zum Sestiere San Marco führt. Er langte sich an die Schläfen. Er brauchte Ruhe, ganz dringend Ruhe. Rudolf lief mit taumelnden Schritten über die Brücke. Einige Jugendliche, die ihm entgegenkamen, stieß er wütend weg. Auf der anderen Seite des Canal Grande angelangt, wendete er sich am Campo Francesco Morosini nach rechts. Als er ein paar Minuten später das Luxushotel Bauer Grünwald sah, ging er kurz entschlossen hinein. An der Rezeption erfuhr er, dass zufällig ein Zimmer frei sei. Ruhe, gleich hatte er Ruhe. Auf dem Zimmer angelangt, warf er den Pfändungsbeschluss aufs Bett, öffnete die Minibar, der Whisky brannte im Magen. Rudolf riss sich die Kleider vom Leib und stellte sich unter die Dusche. Kalt war das Wasser, eiskalt.
61
D er Blick reichte weit über die nördliche Lagune. Die Nachmittagssonne verlieh dem Wasser einen goldenen Glanz. Direkt gegenüber der Fondamenta Nuove lag die Toteninsel San Michele mit ihren hohen Zypressen. Unmittelbar dahinter die Glasbläserinsel Murano. Am dunstigen Horizont ahnte Mark die Gipfel der Dolomiten. Er saß auf der Terrasse einer Bar neben der Vaporetto-Station. Laura hatte im Sestiere San Marco einiges zu erledigen. Außerdem wollte sie sich in Boutiquen umsehen. In knapp drei Stunden würde er sich mit ihr in einem kleinen Caffè treffen. In der Zwischenzeit hatte er vor, mit seiner Kamera ziellos durch die Straßen zu streifen. Weit war er noch nicht gekommen, das Haus von Lauras Eltern lag nur wenige Minuten entfernt. Ob er es wollte oder nicht, seine Gedanken kreisten beständig um Rudolf. Morgen würde er versuchen, Hauptkommissar Wächter zu erreichen. Man musste seinem Halbbruder das Handwerk legen. Es konnte nicht gerecht sein, dass Rudolf sein Leben in vollen Zügen genoss – nach alldem, was er angerichtet hatte. Wahrscheinlich gehörte er in therapeutische Behandlung. Jedenfalls war Guido, Lauras Bruder, gestern Abend dieser Ansicht gewesen. Gewiss war Rudolf psychisch krank. Dies ging ja schon aus den Briefen seiner Mutter hervor, die er im Haus am Gardasee gefunden hatte. Und anders war Rudolfs völlige Skrupellosigkeit auch nicht zu erklären. Ob er wohl immer noch Würfel über sein Schicksal entscheiden ließ, wie er das offenbar schon als Kind gemacht hatte? Mark waren wieder die Briefe seiner Mutter eingefallen.
Er bezahlte seine
Coppa di gelato
und stand auf. Von der Pracht Venedigs war hier wenig zu sehen. Die wohlhabenden Zeiten Cannaregios lagen lang zurück.
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