Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
Der große Maler Jacopo Tintoretto hatte einst in diesem Stadtviertel gelebt; und das Künstlergenie Tizian, an dessen abgerissenes Haus nur noch eine Gedenktafel erinnert. Während Tintoretto seine Heimatstadt so gut wie nie verlassen hatte, war ein anderer Sohn Cannaregios bis ans Ende der Welt gereist. Erst nach über zwanzig Jahren kehrte Marco Polo, der am Hofe des Mongolenherrschers Kublai Khan gelebt hatte, reich beschenkt nach Venedig zurück. Seinen Geschichten, die er später im Kerker von Genua zu Papier bringen sollte, wollte man in Venedig indes nur wenig Glauben schenken. Allzu prächtig waren seine Beschreibungen vom Glanz am Hofe des Kublai Khan ausgefallen, was sich mit der Selbstherrlichkeit der Serenissima nicht vertrug.
Gedankenverloren schlenderte Mark an den Pontons der Linienboote vorbei, wo gerade ein Vaporetto anlegte. Er traute seinen Augen kaum, als er auf dem achterlichen Deck Rudolf sah. Mit beiden Händen hielt sich sein Halbbruder an der Reling fest. Er hatte den Eindruck, dass Rudolf die Augen geschlossen hielt. Kurz entschlossen rannte Mark über die Rampe an Bord. Schon legte das Boot ab. Mark wunderte sich, dass Rudolf wie Normalsterbliche mit dem Wasserbus fuhr, eigentlich entsprachen doch die oft sündhaft teuren Wassertaxis viel eher seinem Lebensstil. Er schob sich zwischen den Fahrgästen nach hinten. Tatsächlich, Rudolf hatte die Augen geschlossen. Sein Anzug war verknittert, der Kragen halb nach innen geschlagen, und die Krawatte hing lose über dem aufgeknöpften Hemd. So unordentlich hatte er Rudolf, der doch so viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte, noch nie gesehen. Irgendetwas schien mit ihm nicht zu stimmen.
Plötzlich öffnete Rudolf die Augen. Irritiert sah er um sich. Mark hielt sich versteckt. Rudolf löste sich energisch von der Reling und drängte rücksichtslos zum Ausgang. Ob er vergessen hatte auszusteigen?
Nächster Halt war die Friedhofsinsel San Michele. Schon war die Renaissancekirche San Michele zu sehen, mit ihrer hellen Fassade aus istrischem Marmor. Bis ins 19. Jahrhundert war die Insel von Mönchen besiedelt, erst nach Auflösung ihres Klosters machten die Venezianer San Michele zu ihrem Friedhof. Genau genommen wurde die Entscheidung auf Betreiben von Napoleon Bonaparte herbeigeführt. Eigentlich dürfen nur gebürtige Venezianer dort beigesetzt werden. Doch machte man bei einigen berühmten Ausländern Ausnahmen. So finden sich dort die Gräber des Komponisten Igor Strawinsky und des Dichters Ezra Pound.
Kaum hatte der Wasserbus am Steg von San Michele festgemacht, stürmte Rudolf an Land. Mark, der ihm folgte, sah, wie Rudolf wütend gegen ein Blechschild schlug.
Mark ging auf ihn zu. »Hallo, Rudolf, was für ein Zufall, dich hier zu sehen.«
Rudolf zuckte zusammen und blickte Mark verstört an. »Was machst du denn hier?«
Mark deutete auf seine Kamera. »Ich fotografiere.«
»Ach so.«
»Und du?«
»Weiß ich auch nicht. Ich habe mich verfahren. Eigentlich wollte ich mit dem Vaporetto zum Piazzale Roma, wo mein Auto steht. Aber offensichtlich habe ich die falsche Linie erwischt. Und als ich das bemerkt habe, bin ich ausgestiegen. Ich nehme jetzt einfach das nächste Schiff in die umgekehrte Richtung.«
Mark zögerte. »Rudolf, versteh mich nicht falsch, aber du machst auf mich einen verwirrten Eindruck. Geht es dir nicht gut? Hast du ein Problem?«
Rudolf lachte laut auf. »Ich? Ein Problem? Wo denkst du hin, alles läuft prächtig, mir geht es geradezu göttlich.« Rudolf machte eine hektische Handbewegung. »Wenn man davon absieht, dass ich ziemlich viel Kohle in den Sand gesetzt habe, mein Palazzo zwangsgeräumt wurde, erneut meine Kreditkarten gesperrt sind und bei mir in München, wie ich heute Morgen erfahren habe, die Steuerfahndung im Haus ist. Aber sonst geht’s mir gut, keine Probleme. Wie sagt man hier zu Lande? Tutto a posto!«
Mark sah Rudolf erstaunt an. Wie konnte das möglich sein? Wenn jemand keine finanziellen Probleme haben durfte, dann doch sein sauberer Halbbruder.
Rudolf suchte irgendetwas in seinem Sakko. »Mach dir keine Gedanken, Kleiner, das kriege ich alles wieder geregelt, davon kannst du ausgehen. Das ist mir noch immer im Leben gelungen. Hast du Zigaretten?«
O ja, das ist dir wirklich immer gelungen, dachte Mark.
»Nein, Rudolf, du weißt doch, ich rauche nicht. Aber nachdem wir uns hier schon zufällig getroffen haben – du hast doch sicher einige Minuten Zeit. Ich möchte mich mit dir
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