Vereist (German Edition)
beinahe vergessen. Alex schaute sich den Sitz auf der anderen Seite des Mittelgangs an, auf dem vermutlich Besand gesessen hatte. Auf den Armstützen war Blut.
Er musste Jim warnen.
Alex war bereits auf dem Weg aus der Maschine, blieb dann aber mit der Hand auf der gezackten Metallkante noch einmal stehen. Er schaute zurück und musterte die Person, die einmal ein guter Freund gewesen war. Linus gab es nun nicht mehr. Die kalte, leere Hülle, die in dem Sessel hing, erinnerte nur noch vage an den warmherzigen, humorvollen Mann, der er einmal gewesen war.
Alex schlurfte in seinen Schneeschuhen den Hang zum Cockpit hinunter. Er wischte sich über die feuchten Wangen und suchte ununterbrochen mit den Augen den Waldrand ab.
»Er ist noch warm, verdammt!« Jim sprang von einem Fuß auf den anderen und beugte sich über Brynn, die den Piloten untersuchte.
Brynn nickte. »Warm würde ich es nicht nennen. Aber er ist nicht eiskalt wie der andere Pilot. Die Totenstarre setzt grade erst ein. Er ist seit mindestens zwölf Stunden tot.
Sie betrachtete das Chaos aus ineinander verhaktem Metall, das die Beine des Piloten durchbohrt und eingeklemmt hatte. Der Mann war langsam verblutet. Seine blutverschmierten Hände zeugten von seinen verzweifelten Versuchen, sich zu befreien. Doch auch das hätte ihn vermutlich nicht gerettet. Wahrscheinlich wäre er sogar früher gestorben, weil er dann noch schneller viel mehr Blut verloren hätte.
Vielleicht wäre das besser gewesen. Voller Mitgefühl für die Qualen und das Entsetzen des Piloten, der wusste, dass er starb, schloss Brynn die Augen. Sein Todeskampf berührte sie tief. Dieses Bild würde sie von nun an nachts in ihren Träumen sehen. Genau wie den vierjährigen Jungen, den ein Jeep erfasst hatte. Und die alte Frau auf dem Fußboden ihres Badezimmers, die eine ganze Woche lang von niemandem vermisst worden war.
»Brynn.«
Sie sah zu Jim hinauf. »Ja?«
»Ich habe nach dem anderen gefragt.«
Brynn schob die Erinnerungen energisch beiseite und bewegte einen der Arme des Copiloten. »Die Totenstarre hat sich bereitswieder gelöst. Ich nehme an, er ist sofort beim Aufprall gestorben. Oder er wurde ohnmächtig und starb kurze Zeit später. Er hat nicht versucht, die Blutung an seinem Bein zu stillen.« Sie hob die saubere, kalte Handfläche des Mannes an, damit Jim sich selbst davon überzeugen konnte. Jim nickte.
»Glaubst du, der andere Pilot hat gelitten?«, fragte Thomas leise. Nickend deutete sie auf seine blutigen Hände. Das Hemd des Piloten war blutgetränkt bis zu den Ellbogen. Er hatte mit aller Kraft um sein Leben gekämpft. Thomas wandte sich abrupt ab und verließ das enge Cockpit.
»Lass uns mal nachsehen, ob Alex etwas gefunden hat.« Jim forderte Brynn mit einer Bewegung seiner Waffe auf, Thomas zu folgen.
»Richte dieses Ding nicht auf mich«, fauchte sie.
»Sorry.« Jims Entschuldigung klang nicht überzeugend. Brynn atmete tief durch.
Alle waren angespannt, aber das war verständlich. Sie hatten sich so mühsam bis hierher vorgekämpft und mussten nun mit der Enttäuschung und dem Entsetzen klarkommen. Warum war es ihr gelungen, trotz allem die Hoffnung nicht zu verlieren?
Alex sprach vor dem Cockpit mit Thomas. Sie und Jim stiegen zu den beiden hinaus. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Im Augenblick hatte Brynn allerdings keine Augen für die Schönheit der Natur. Der einsame qualvolle Tod des Piloten beherrschte ihre Gedanken. Hoffnungsvoll sah sie Alex an. Vielleicht hatte er ja mehr Glück gehabt. Doch sein ernstes Gesicht sprach Bände. Sie tauschten einen langen Blick aus.
»Was hast du dort oben gesehen?«, fragte Jim.
Alex sah zwischen Brynn und Jim hin und her. »Einen Toten. Den Marshal.«
»Oh, Alex. Das tut mir ehrlich leid.« Brynns Kehle zog sich zusammen.
»Aber Darrin Besand ist weg«, sagte Thomas.
»Du wusstest Bescheid?« Brynn fuhr zu ihm herum. »Du wusstest, wer in dem Flugzeug saß?«
Thomas hob abwehrend die Hände. »Alex hat es mir vor fünf Sekunden gesagt.«
»Darrin Besand. Das ist der Häftling? Du wusstest die ganze Zeit, dass dieses gefährliche, psychopathische Stück Dreck an Bord war und hast es mir nicht gesagt?« Jims Worte wurden lauter, und sein Gesicht verfinsterte sich. Er rückte näher an Alex heran. »Wusste Brynn davon?«
»Alex hat es mir eine Sekunde, bevor du mich zum Cockpit gerufen hast, gesagt, Jim.« Brynn schob sich unauffällig zwischen Jim und Alex.
Alex wich Jims Blick nicht aus.
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