Vereister Sommer
Die Sadisten vom MGB hatten ein Opfer in den Fängen, dessen innerer Widerstandskraft ihre diabolische Phantasie nicht gewachsen war. Schon am ersten Tag, als sie sie in die Finger gekriegt hatten und man sie, unter taxierenden Blicken, ins Vernehmungszimmer der Wismarer MGB-Residenz brachte, hatte einer der Offiziere sich schwer in ihr getäuscht. Zuvor gefragt, ob sie Russisch verstünde, verneinte sie intuitiv. Aber das stimmte nicht; sie verstand eine Menge. Und so sagte er höhnisch und auf Russisch in die Runde: »Wie sie guckt, wie die Katze nach der Butter!« Die Antwort, die ihr auf der Zunge lag, verkniff sie sich im letzten Moment. Sich hier dumm zu stellen war nicht nur klüger, es war in höchstem Maße notwendig. Vielleicht sogar überlebensnotwendig.
Ende November 1950 verließ sie Magdeburg und ging auf Transport. Zunächst brachte man sie in ein Gefängnis nach Potsdam, das unter der Kontrolle des sowjetischen Innenministeriums stand. Die Zelle, in die sie kam, war schon mit zwei Frauen belegt, auch sie waren aus politischen Gründen in Haft geraten und bereits seit längerem hier. In der Potsdamer Zelle fühlte sie sich nach scheinbar unendlicher Zeit aus Dreck, Einsamkeit und Demütigung endlich wieder halbwegs wie ein Mensch, die Frauen halfen ihr, wo sie nur konnten, wuschen ihre verschmutzte Wäsche und trockneten sie auf der Heizung. |73| Sie selber spürte zum ersten Mal seit langem wieder heißes Wasser auf der Haut, frische Kleider am Körper, die ihr die Frauen aus ihrem eigenen Bestand liehen. Als eine Decke fehlte für die Nacht, da sie ja nun zu dritt waren, und eine der Frauen den Posten mit der Begründung darum bat, sie hätten eine Schwangere bei sich, sagte der zunächst nur, dafür könne
er
nichts. Doch hatte er sich bloß einen schlechten Scherz erlaubt und lachte, als er mit der erbetenen Decke in der Hand wieder vor der Zelle stand. Knapp zwei Wochen später lag auch Potsdam hinter ihr, und nach einer Nacht in Torgau öffneten sich vor ihren Augen die Zuchthaustore von Waldheim. In der Zelle, in die sie nun kam, lagen fünf junge und ältere Frauen, auch sie allesamt politische Gefangene, eines der Mädchen hatte bereits einen Selbstmordversuch hinter sich. Die Wachtmeisterin, von der sie in die Zelle gebracht worden war, wandte sich deshalb mit der Auflage an die übrigen, auf das Mädchen besonders zu achten, schon gar nicht sollten sie ihm etwas nachmachen. Als sie den merkwürdigen Rat hörte, sie, die das werdende Leben in sich immer intensiver spürte, überkam es sie plötzlich, nichts konnte sie mehr halten. Sie sprang auf, kreuzte die Arme über ihrem inzwischen sichtbar gewölbten Leib und rief aus: »Wir? Wir sind doch noch jung und haben noch Schwung!« Als die Wachtmeisterin wieder verschwunden war, sagten die anderen zu ihr, zum ersten Mal, seitdem sie hier seien, hätten sie diese Uniformierte lächeln gesehen. Sie gehöre zu den härtesten Bewacherinnen in Waldheim. In der Nacht, sie lagen auf Zweierpritschen, fragte ihre Bettnachbarin, ob sie einmal ihren Bauch streicheln dürfe, sie würde so gerne wissen, wie es sich anfühle. Für eine Sekunde fand sie die Bitte merkwürdig, aber dann verstand sie und ließ ihre Schicksalsgefährtin gewähren. Kurz vor Weihnachten fuhr man sie und eine weitere politische Gefangene, die ebenfalls aus Mecklenburg kam, aber fünfundzwanzig Jahre Arbeitslager erhalten hatte, von Waldheim nach Stollberg, in die Festung Hoheneck. Ihre monatelange Odyssee durch |74| Geheimdienstgefängnisse und Haftanstalten war damit vorerst zu Ende, und es schien so, als ob ihr Russland erspart bliebe.
22. Januar 1954
Ja, sie war in Deutschland geblieben, auch wenn dieses Deutschland, durch das sie gerade in einem D-Zug fuhr, der soeben in den Bahnhof von Bad Kleinen einlief, nun
Deutsche Demokratische Republik
hieß und sie und ihre Kameradinnen in der zurückliegenden Zeit behandelt hatte, als hätten sie gegen diesen Staat ein Verbrechen begangen. Wie frei konnte sie in ihm überhaupt noch leben, selbst wenn sie nicht mehr im Gefängnis saß? Als der Zug zu bremsen begann, so geräuschvoll wie auf allen Bahnhöfen zuvor, stand sie schon angezogen und mit den wenigen Habseligkeiten unter dem Arm an der Tür – ein kostbares Miniaturbüchlein mit gesticktem Umschlag und ihren Initialen gehörte dazu, das Geschenk einer Kameradin zum Weihnachtsfest 1952; Verse, die Halt gegeben hatten in jener Zeit, mit Bleistift aufs Papier
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