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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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Schrecken und die Verwirrung in seinem Gesicht etwas gelegt hatten, ihm in seine Gartenlaube zu folgen, um über unsere Begegnung vor siebzehn Jahre zu reden, unter Bedingungen, die mich damals in Handschellen sahen, ihn aber in der Rolle eines Richters, der Rechtsprechung nur simulierte. Das Gespräch wurde mit einem Richtmikrophon in der Nachbarlaube aufgezeichnet, in voller Länge und ohne dass der Oberrichter a. D. es wusste. Erst Wochen danach habe ich ihm die Zustimmung abgerungen, eines Tages damit machen zu können, was ich wollte. In einem Brief versuchte ich, ihn davon zu überzeugen, dass seine Zustimmung genau zu der tätigen Reue gehöre, die zu leisten er mir versprochen habe. Und obwohl er in seiner Antwort zu verstehen gab, dass ihn das Abgehörtwerden
enttäuscht
hätte, so als hätte uns eine lange Freundschaft verbunden, verweigerte er sich meinem Ansinnen zuletzt nicht. Er |123| war zum Glück ahnungslos, wie dünn der Faden war, an dem mein Begehren hing: Ohne seine schriftliche Erklärung hätte der Fernsehsender das Band mit dem denkwürdigen Dialog in seinem Archiv versenkt. Das Gespräch aber war so normal und absurd zugleich, dass kein Beckett oder Ionesco es hätte besser erfinden können. Es begann an einem metallenen Gartentor und setzte sich bald fort, hinter Blumenrabatten und Obstbäumen verborgen, in einem unauffälligen Gartenhäuschen, an dessen Inneres ich keine Erinnerung mehr habe. Zu sehr war ich auf den Mann in einem Korbsessel neben mir konzentriert, der mich einmal gnadenlos gerichtet hatte und über den ich nun selber zu Gericht saß, zwar nur moralisch, aber in einer geschichtlichen Stunde, in der noch nicht restlos klar war, wie es ausgehen würde mit den Tätern des gerade untergegangenen politischen Systems. Wenn er damals schon gewusst hätte, wie es dann tatsächlich ausgehen sollte für ihn und seinesgleichen, wäre er vielleicht ganz anders aufgetreten: Bis auf eine einzige Richterin, Slavik, ist niemand von diesen Parteijuristen je von einem ordentlichen Gericht für seine Untaten verurteilt worden. Das ist in Deutschland nicht anders als in Russland.
     
    Passon:
Darf ich Sie mal fragen, was Sie hier machen?
    Schacht:
Darf ich mal fragen, ob Sie mich noch kennen?
    Passon:
Nee.
    Schacht:
Aber ich kenne Sie.
    Passon:
Ja? Wer sind Sie denn?
    Schacht:
Ich bin eines Ihrer Opfer.
    Passon:
Ach, sind Sie Herr Schacht dann?
    Schacht:
Jawohl.
    Passon:
Darf ich Sie bitten, mal reinzukommen, Herr Schacht?
    Schacht:
Wenn wir was zu besprechen haben. Wenn Sie das möchten.
    Passon:
Ja. Ja, warten Sie mal: Die Tür klemmt.
    Schacht:
Ja.
    |124| Passon:
Ich finde das bloß sehr unkulant, dass Sie hier auf so eine Art …
    Schacht:
Auf welche Art sollen wir das denn sonst machen?
    Passon:
Sie hätten mich ja …
    Schacht:
Wir haben versucht, Sie zu erreichen. Und Sie haben mir einen Zettel zukommen lassen, auf dem Sie geschrieben haben, dass es Ihnen so schlecht geht, dass Sie nicht vor die Kamera können.
    Passon:
Ja, das ist richtig.
    Schacht:
Und da muss man sich natürlich anderweitig behelfen.
    Passon:
Ja, aber das ist doch nicht die Art, wissen Sie, wie man das macht, so eine Art …
    Schacht:
Wissen Sie, über Arten, das ist das Grundproblem. Wir haben beide eine Art hinter uns. Haben Sie ja geschrieben.
    Passon:
Herr Schacht, wissen Sie …
    Schacht:
Ja?
    Passon:
Was wir, wo wir beide zusammen, zusammen uns auf eine ganz eigentümliche Art getroffen haben, zusammenkamen, das tut mir so von Herzen heute leid. Ich möchte Ihnen das in aller Ehrlichkeit und in aller Offenheit sagen.
    Schacht:
Kann ich Ihnen das abnehmen?
    Passon:
Herr Schacht, wissen Sie … Vielleicht machen wir’s doch hier, ja? Wissen Sie, ich hatte sogar vor, Ihnen einen Brief zu schreiben. Mir war die Anschrift leider nicht bekannt. Und es war mir, ich kann Ihnen das ja sagen … ich bin an sich streng katholisch. Das wird Sie vielleicht überraschen!
    Schacht:
Im Prinzip schon, weil …
    Passon:
Ja?
    Schacht:
… weil das schwer zu vereinbaren ist.
    Passon:
Wir könnten uns …
    Schacht:
Wir können ruhig draußen bleiben.
    Passon:
Nee, ich möchte doch lieber, wissen Sie, mit Nachbarn und so weiter, ja, es ist alles sehr hellhörig. Es ist ein bissel bescheiden bei mir. Ich bin an sich hier Kleingärtner, mehr oder
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weniger. Wenn ich Sie so bitten darf. Also ich hätte Sie nicht erkannt.
    Schacht:
Das ist klar. Es sind ja auch Jahre vergangen. Fast zwanzig

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