Vereister Sommer
diesem unheimlichen Gefangenenchor, denn der Gottesdienst war tatsächlich längst zu Ende, und wie unter Schock zu den Fenstern hinausstarrten, hinunter in den Abgrund aus Mauern, Hundelaufkorridoren und Stacheldraht, zu dem sie selbst gehörten, Teil einer ohnmächtigen Macht in diesen Minuten, bis auch die letzte Strophe der Hymne des deutschen Protestantismus verklungen war, die dritte hatten die Frauen mit geradezu elementarer Kraft heraus- und gegen die Wände der Zwingburg geschmettert: »Und wenn die Welt voll Teufel wär / und wollt uns gar verschlingen, / so fürchten wir uns nicht so sehr, / es soll uns doch gelingen. / Der Fürst dieser Welt, / wie sau’r er sich stellt, / tut er uns doch nicht; / das macht, er ist gericht’: / ein Wörtlein kann ihn fällen.«
3. Mai 1951
Sie war aufgeregt, schon den ganzen Morgen lang. Der erste Besuch der Mutter stand bevor, für heute, für bald, für gleich. Würde sie wirklich in Stollberg eintreffen? War sie schon da? Zehn Stunden würde sie bestimmt unterwegs gewesen sein. Oder war etwas dazwischengekommen auf der langen Fahrt mit der Bahn zwischen Wismar im äußersten Nordwesten des Landes, am Meer, und Stollberg im Erzgebirge, an der Grenze zu Böhmen? Doch dann, kurz nach zehn Uhr, war es soweit, und wie sie sich darauf vorbereitet hatte: Aus einem weißen Männerhemd hatte sie eine Bluse gezaubert, mit Bommeln vorne dran, die Hose, die sie trug, war bereits am Abend zuvor angefeuchtet, auf Kniff gelegt und unters Laken geschoben worden. Nun konnte man mit den Bügelfalten Brot schneiden, und Erika Renne, die Gute, hatte ihre langen Haare schick frisiert. Auch der zwei Monate alte Sohn war fein angezogen |153| worden, er trug einen weißen Strampler, zusätzlich hatte sie ihn in eine Decke gehüllt, damit er nicht fror, als Frühchen war er ja besonders gefährdet. Abgeholt wurde sie von der »dicken Alma«, einer äußerst korpulenten Hauptwachtmeisterin, die eigentlich Alma Görschel hieß. Sie führte sie ins Verwaltungsgebäude des Gefängnisses und vergatterte sie währenddessen darauf, was sie im Besucherzimmer dürfe und was alles nicht. Verboten war vor allem jeglicher Körperkontakt mit den Angehörigen: keine Umarmung, kein Kuss, nicht einmal ein Händedruck war erlaubt. Verboten war aber auch jedes Wort über den Alltag in der Burg, über Mitgefangene, über Details des eigenen Falles. Was die Hauptwachtmeisterin ihr auf dem Weg zu ihrer Mutter im Befehlston einzutrichtern versucht hatte, wiederholte eine andere Uniformierte, die bei den Gefangenen nur die »Postmeisterin« hieß, noch einmal im Besucherzimmer selbst, wo sie, den Jungen auf dem Arm, an einem Tisch Platz nahm, an dem schon ihre Mutter auf sie wartete. Der Tisch unterbrach zugleich die Trennlinie aus einem hüfthohen Holzgitter, von dem der Raum in zwei Hälften geteilt wurde. Auf dem dritten Stuhl, der sich darin befand, hatte sich die »Postmeisterin« niedergelassen, um das Gespräch ebenfalls zu überwachen und notfalls einzugreifen. Die Hauptwachtmeisterin stand, wie auf dem Sprung, die ganze Zeit über an der Wand. Nach all den Verboten und Auflagen bewegte sich das Gespräch zwischen Mutter und Tochter zunächst in einer Welt aus lauter Banalitäten, die unter den herrschenden Umständen manchmal geradezu absurd wirkten: Mir geht es hier gut, wie geht es euch? Wer ist krank, wer ist gesund? Wie geht es den Kindern? Was machen Schwester und Schwager? Vielleicht geht ja alles schneller zu Ende, als wir jetzt glauben? Die Zukunft kennt keiner!
»Kann ich den Kleinen mal in den Arm nehmen?«
Die spontan geäußerte Bitte der Mutter an die Tochter, das Enkelkind über die Barriere zu reichen, und der Beginn des Versuchs von Seiten der Tochter, der Bitte der Mutter, die zum zweiten Mal |154| Großmutter geworden war, auf ganz natürliche Weise zu entsprechen, reichten der Hauptwachtmeisterin, um mit einer unglaublich schnellen Körperbewegung und scharfem Ton dazwischenzugehen: Das sei, was sie doch ganz genau wüsste, absolut nicht gestattet! Also auch das war verboten. Wenn es schon verboten war für die Großmutter, das Enkelkind zu berühren, so war es immerhin nicht verboten, über dessen Zukunft zu sprechen, denn am Ort bleiben müssen, bis die Tochter ihn wieder verlassen könnte, würde der Junge ja sicherlich nicht! So kamen Grete und Horst ins Spiel, die potentiellen Pflegeeltern. Damit war sie einverstanden, mit der Idee einer Freigabe zur Adoption allerdings
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