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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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denen Günter Grass und Lew Kopelew den Sarg, in dem der Mann mit dem legendären traurigen Clownsgesicht lag, verstummt für immer, mittrugen. Die klagende Musik der dem Trauerzug hingebungsvoll vorantänzelnden Mitglieder |150| einer Zigeunerkapelle klingt mir noch heute in den Ohren, wenn ich daran denke.
     
    4. April 1999
    Noch fünfzig Meter, dachte der Mann. Oder waren es nur noch dreißig? Er hatte kurz aufgeblickt und dabei zum ersten Mal die Gestalt wahrgenommen, auf die sie offenbar schon seit Minuten zugingen: Sie stand, auf der rechten Seite des abschüssigen Weges, an einen dunklen Pfosten geschmiegt, der zu einem Tor gehörte, hinter dem sich ein größeres, grau verputztes Haus erhob. Dazwischen ein Streifen alten Schnees, von einem Drahtzaun zum Weg hin begrenzt. Der Birkensaum war ebenfalls näher gerückt, schon traten einzelne Stämme und Muster deutlicher hervor, auch Tannen nahm er jetzt wahr. Vaters
Datsche
, dachte er. Das also war sie! Aber dann – Slavik hielt ihn instinktiv fester am Arm, weil das Gelände wieder glatter, mürber, rutschiger wurde – zuckte plötzlich ein absurder Gedanke durch seinen Kopf:
Vater
? Dich gibt es doch gar nicht! Jedenfalls nicht in den Papieren, die bei der Befragung von Mutter im Gefängnis, wer der Vater des Kindes sei, das sie gerade geboren hätte, ausgefüllt worden waren. »Weiß ich nicht«, hatte Mutter geantwortet, mit hochrotem Kopf und trotzigem Blick. Und noch einmal: »Weiß ich nicht«, weil nachgefragt wurde. Mochten sie denken, was sie wollten! Mochten sie denken, ein Flittchen vor sich zu haben, das nicht mehr wusste, mit welchem Mann es sich vergnügt hatte, der nun, ohne es zu wissen, Vater geworden war. Nein, sie hatte ihren Grund, dich zu verleugnen in diesem Moment, deinen Namen nicht anzugeben, ums Verrecken nicht, es war ein furchtbarer Grund, und er hatte nichts mit dir persönlich zu tun: Ihr Wissen, dass es vorgekommen war, dass Kinder aus den Beziehungen mit sowjetischen Offizieren nach der Geburt verschwanden, Richtung Russland, für immer. »Kinder des Staates« wurden sie im menschenräuberischen Requirierungsjargon |151| der dafür zuständigen Offiziere des sowjetischen Geheimdienstes genannt. Deshalb kannte sie dich, der du nun nur noch ein paar Dutzend Schritte im Schnee von mir entfernt bist, in jenem dramatischen Moment 1951 auf der Gefängnisburg nicht mehr. Deshalb nahm sie die abschätzigen Blicke von Uniformierten wie Gefangenen auf sich. Und ging trotzdem glücklich in ihre Zelle zurück, wo ich lag: das Russenkind, das nun, amtlich dokumentiert, keines mehr war. Mir hat sie später gesagt: »Ich wusste ja, wer dein Vater war, und dass ich es dir zur rechten Zeit sagen würde, wusste ich auch.« Und sie hat es mir gesagt, früh schon, mit sieben, acht Jahren, sonst würde ich jetzt ja auch nicht auf dich zukommen können, am Arm von Slavik, deines zweiten Sohnes von dreien, die du hast, wie wir alle jetzt wissen, der mich oben, am Dorfrand, bei den fünf Pappeln, abgeholt hat, vom Auto, mit dem wir gekommen sind, was du wohl denkst, jetzt, gerade, wo du uns bestimmt besser siehst als wir dich, weil du uns schon seit Minuten hast kommen sehen? Denkst du an euch und eure Zeit in Wismar? Oder denkst du, wie es für sie war im Gefängnis? Deine Christa, eine Gefangene! Vielleicht fragst du mich ja bald, dann kann ich dir erzählen über jene Schreckensjahre, von denen sie mir berichtet hat, früh schon, sehr früh, all die Geschichten aus tausendundeiner düsteren Nacht, selbst wenn es Tag war, aber auch die Lichtblicke darin hat sie mir nicht verschwiegen, den täglichen Widerstand, den viele dort leisteten, um ihre Würde zu bewahren und die ihrer Kameradinnen, unter Umständen, die ihnen diese Würde nehmen sollten, grundsätzlich, ein für alle Mal … Dagegen standen ihre Haltungen, Gesten, Solidarisierungen. Manchmal, wie am 31. Oktober 1951, reichte ein nicht vorgesehenes, spontan verabredetes Lied, um zur reinen Gegenmacht zu werden: »Ein feste Burg ist unser Gott!« Gemeinsam gesungen, im Anstaltsgottesdienst, den es immerhin manchmal gab, nach dem Segen und im Stehen, so stark, so intensiv, so unerreichbar für jeden möglichen Befehl, Gegenbefehl, den Saal zu |152| verlassen, der Gottesdienst sei ja zu Ende, dass dem Pfarrer von draußen, aus einem Dorf bei Chemnitz, die Tränen über das Gesicht liefen, die Aufseherinnen aber schlagartig blass wurden, leichenblass, und sich vor Entsetzen abwandten von

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