Vereister Sommer
nicht. Pflegeeltern konnten die Kochs werden, nicht mehr, nicht weniger. Bis sie wieder zurück war. »Hättest du einen von uns weggegeben?«, fragte sie über den Tisch. Die Mutter, die geglaubt hatte, dem Adoptionswunsch der Freunde ihrer Tochter angesichts von deren prekärer Lage aus Gründen der reinen Vernunft etwas abgewinnen zu können, ihren klugen Kopf gegen ihr schweres Herz in Stellung bringend, verneinte auf diese Frage denn doch schnell und entschieden. Irgendwann waren sie dann doch in ein halbwegs normales Gespräch gekommen, aber die dreißig Minuten, die ihnen miteinander zu sprechen erlaubt waren, waren da fast schon vorüber. Zuletzt erzählte die Mutter der Tochter das Schlimmste, schnell, geradezu hastig, als sollte nicht so viel hängenbleiben davon, nicht so viel ins Bewusstsein der im Dauerunglück Lebenden vordringen: Die Schwiegereltern von Käte seien mit dem Taxi auf dem Weg zu einer Hochzeit in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt worden, der Schwiegervater sei beinahe verblutet. Zwar habe er zum Glück überlebt, weil er sich geistesgegenwärtig seinen Oberschenkel mit dem Schlips abgebunden hätte, aber das zerquetschte Bein hätte man ihm, dem so agilen Schneidermeister Mäker, zuletzt doch amputieren müssen, es sei schrecklich für alle gewesen. Sie sah, während ihre Mutter sich erhob, das abgespannte, übermüdete Gesicht einer Frau in |155| ihrem sechsundfünfzigsten Lebensjahr, die die ganze Nacht lang im Zug gesessen hatte, um anschließend mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken den anstrengenden Weg zu bewältigen, der hinaufführte zu jener mächtigen und düsteren Gefängnisburg, die über der erzgebirgischen Kreisstadt Stollberg wie ein verfluchtes Schloss thronte, in dem auch ihre Tochter und der Enkelsohn verschwunden waren. Von den Mitbringseln durften die Lebensmittel zwar bleiben, die Babysachen aber musste sie, mit betrübtem Gesicht, wieder einpacken. Sollte sie die Mutter so ziehen lassen? Niemals! Also wischte sie die Befehle einfach zur Seite, legte ebenso plötzlich wie behutsam das in die Decke gewickelte Kind auf den Tisch, an dem sie sich in der nun mit den allerletzten Zeitkörnern wegrinnenden halben Stunde gegenübergesessen hatten, beugte sich blitzschnell über die rissige und abgenutzte Platte, umarmte die Mutter, küsste sie und ließ den sofortigen, aber dennoch zu spät kommenden Anschnauzer der Hauptwachtmeisterin an sich abprallen wie einen Ball an einer Betonwand. Auf dem Rückweg in ihre Zelle fiel ihr auf, dass der Junge vollkommen still gewesen war, gegen seine bisherige Gewohnheit, die ganze Zeit über. Nicht ein einziges Mal geschrien hatte er, der sonst so unruhig war und nur mit viel Zuspruch und leisem Gesang in den Schlaf fiel. Eigenartig, dachte sie, ob er wohl die Besonderheit der Stunde gespürt hatte? Einige Tage später schrieb sie den fälligen Monatsbrief, dieses Mal an die Familie ihrer Schwester:
Liebe Käte, Fieti + Neina! Heute will ich Euch schreiben, damit Ihr nicht denkt, daß ich Euch vergessen habe. Ich war ja so froh, daß Mutti gekommen ist, aber auch erschüttert, daß soviel Unglück zu Hause war. Das Schlimmste ist, daß ich hier gebunden bin und Euch nicht helfen kann. Hoffe aber, daß es Euch Allen jetzt wieder besser geht. Ist Mutti wieder gut gelandet? Für Pakete besten Dank. Hat alles gut geschmeckt. Käte, wenn ihr mal Salzheringe auftreiben könnt, wäre ich glücklich! Was macht mein
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Dorle und Neina? Ich habe Heimweh nach den Kindern, nach Euch Allen. Glaubt mir, diese Zeit hat mich viel gelehrt. Meinem Mücki geht es ganz gut, hat aber Kreislaufstörung und bekommt Spritzen. Trotz allem nimmt er gut zu und wiegt gute 9 Pfd. Ich bin glücklich, daß ich etwas hab, das ich so recht liebhaben kann, und nicht so alleine bin. Wie denkt Margarete über den Jungen? Gebt mir bitte schnell Bescheid, aber nur in Pflege. Nachträglich alles Gute zum Pfingstfest. Wir hatten Kirche. Es war sehr schön und hat uns viel Trost gegeben. Sag Mutti vielen Dank für alles; ich bin so froh, daß ich Euch habe. Nun grüßt alle von mir, besonders Marg. + Horst. An Mutti und mein Dorli-Mädel sowie Euch selbst viele Grüße und auf ein baldiges Wiedersehen. Eure Wendi
4. April 1999
Tschita
, dachte der Mann jetzt. Er dachte es, wie alles zuvor, in Richtung seines Vaters, auf den er, noch immer gestützt von Slavik, seinem Halbbruder, auf der schneebedeckten Dorfstraße von Schalikowo zuging: Als Mutter mich,
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