Vereister Sommer
ersten Nacht nach ihrer Festnahme verhört hat. Sie hat mir das Haus, in dem du lebtest, einmal photographiert: ein typisch deutsches Einfamilienhaus, bescheiden in seinen Ausmaßen, mit einem steilen Dach, aus roten Backsteinen gemauert. Dreißiger Jahre. Im Haus wohnte noch ein weiterer |161| Offizier, dein Freund Wassilij. Oberleutnant Wassilij Wolkowitsch. Auch Wassilij hatte eine deutsche Freundin, Traute. Sie kam aus Ostpreußen; der Krieg hatte sie nach Wismar vertrieben. Traute Schakat. Wassilij ging es scheinbar wie dir, denn auch Traute war eines Tages schwanger. Bis zur Verhaftung von Mutter wart ihr fast ein Kleeblatt, immer zusammen: beim Tanzen, am Strand und eben in eurem Haus, wo ihr Blödsinn machtet und du deine Pistole zogst, um einer Fliege das Lebenslicht auszublasen. Eine Geschichte, die mir seit langem besonders gut gefällt, weil sie, nun ja, so schön verrückt ist, so herrlich unberechenbar. Mutter sagt auch, dass im Haus immer Wodka vorhanden gewesen sei, reichlich, ihr aber kaum getrunken hättet, wenn Traute und sie da gewesen wären. Das sei ihr auch deshalb aufgefallen, weil die anderen russischen Offiziere, vor allem die im Tanzsaal, den Schnaps nur so hätten fließen lassen und es dadurch dann zu Streitereien kam, in deren Folge oftmals ebenfalls die Pistolen gezogen wurden, aber nicht mehr aus Spaß wie bei dir. In die Stadt gegangen seid ihr aber nie zusammen. Auch hättet ihr nie über dein Leben in der Kaserne gesprochen, nicht über Politik oder gar Stalin. Wenn ihr nicht zum Tanz gingt, traft ihr euch in der Gaststätte »Sportlerheim«, die am Weg nach Wendorf lag, in deren Nähe sich ein Tennisplatz befand und in den Jahren vor dem Krieg, als sie noch das feine Ausflugsrestaurant »St. Jakob« war, nicht viel mehr als Felder und Wiesen. Das weitläufige Gelände dahinter, bis zum Wasser, wurde später ja ein Teil des riesigen Areals der Schiffswerft, deren Aufbau zu eurer Zeit gerade begann. Ich glaube nicht, dass ihr viel davon mitbekommen habt. Sie hätte meist Limonade getrunken, du Bier. Worüber ihr euch wohl unterhalten habt? Natürlich geht mich nicht alles davon an, aber manchmal wünschte ich schon, in die Vergangenheit zurückhören zu können. Doch das kann man genauso wenig, wie man in die Zukunft blicken kann. Am Ende wird es seinen Sinn haben.
Als Mutter im Juni 1950 bemerkte, dass sie schwanger war, |162| sagte sie es dir sofort. Vor allem fragte sie, was nun werden solle, wie es weitergehe und ob ihr nicht heiraten könntet, sie sei jedenfalls bereit, sie liebe dich ja, sogar mit nach Russland zu gehen, wenn das in Deutschland nicht gehe, ob du dich nicht mal erkundigen könntest? Mir erschien diese Bereitschaft, ins Russland Stalins zu ziehen, immer nur vollkommen verrückt, und ich sagte es ihr auch. Sie aber schwor auf die Liebe und bekannte, aus Liebe wäre man noch zu ganz anderen Opfern bereit. Du versprachst ihr, deine Vorgesetzten zu fragen, aber die Antwort, mit der du zurückkamst, brachte sie ziemlich aus der Fassung, sagtest du doch nicht nur, dass es für eine Heirat keine Genehmigung gebe und man dir sogar mehr oder weniger im Befehlston angeraten hätte, euer Verhältnis zu beenden. Noch schlimmer für sie war der Nachsatz: Weil ihr offenbar observiert werden würdet, sei es wohl besser, sich vorläufig nicht mehr zu sehen. »Aha«, habe Mutter daraufhin ziemlich empört zu dir gesagt: »Jetzt, wo ich schwanger bin, willst du dich von mir trennen?!« Das aber muss dir sehr peinlich gewesen sein, denn du hättest sie daraufhin mit den Worten zu beruhigen versucht: »Na gut, ich bring dich nach Hause, und morgen können wir uns ja wieder treffen.« Doch als ihr das »Sportlerheim« an jenem Augustabend verlassen habt, sprang plötzlich aus einem Gebüsch am Weg eine Gestalt und verschwand eilig in der Nacht. Da war Mutter zwar klar, dass du wohl kein Märchen erzählt hattest. Was ihr leider nicht klar war, war die Tatsache, dass mit der davoneilenden Gestalt die Gefahr, vor der du gewarnt hattest, nicht etwa geringer wurde, sondern der Zugriff des Geheimdienstes unmittelbar bevorstand. Zwei Tage später, am 15. August, war es soweit. Eure Geschichte war mit einem Schlag zu Ende, auch wenn es noch ein kurzes düsteres Nachspiel geben sollte: die nächtliche Gegenüberstellung im fernen Magdeburg, am Sitz des für euch zuständigen sowjetischen Militärtribunals, unter Umständen, die für Mutter an diesem 13. August 1950 noch jenseits aller
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