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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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Felder dahinter, die Chaussee führte nach Lübeck, das verführerisch nahe lag. Bis dorthin sind es ja nur rund fünfzig Kilometer, und die Grenze war damals weiß Gott noch nicht so undurchdringlich wie später: Lübeck in der britischen Zone, das war die furchtbar naheliegende logische Idee meiner Mutter, als es im Osten nicht mehr weiterging für euch – der gedachte Ausweg in den Westen, der sie nicht ins erhoffte Glück führte, dafür aber ins wirkliche Unglück. Dich jedoch tief nach Asien. Zum Gehöft mit dem Restaurant, in dem ihr euch verliebt umeinander gedreht |159| habt, gehörte übrigens auch noch eine Schmiede, in der einst Pferde beschlagen wurden. Aber sie ist euch zuletzt kein Ort des Glücks gewesen. Erst später hat man die Gegend bebaut, die ja dicht an der Ostsee liegt, die ersten Blöcke kamen schon in den fünfziger Jahren auf die Wiesen und Äcker, »Stalinbauten« nannten wir sie. Sogar ein Hochhaus entstand, zehn Stockwerke ragten da am Ende empor, von oben hatte man einen phantastischen Blick auf die Stadt, die Werft, die Hafenbecken wie über die ganze Wismarer Bucht mit der Insel Poel und dem Inselchen Walfisch. Ich glaub, als Kind war ich sogar stolz darauf, dass unsere Stadt ein so hohes Gebäude hatte, obwohl doch die Kirchen unendlich gewaltiger waren, wie mich auch die Doppeldeckerbusse stolz machten, die damals noch die Strecke ins Seebad Wendorf befuhren, vorbei an deiner ehemaligen Kaserne und durch Vorwendorf hindurch, wo ihr in den Sommerwochen am Strand gelegen habt, zusammen mit Dolores, meiner kleinen Schwester, die du schon mal in ihrer Sportkarre geschoben hast, sie war ja damals erst anderthalb Jahre alt. Aber 1950 war von all den Neubauten natürlich noch nichts zu sehen, sie fingen gerade erst an, die Werft mit der Kabelkrananlage zu errichten, auch so ein Bauwerk, das mir schon früh imponiert hat: die mächtigen Stahlpfeiler, von weitem ein filigranes Wunderwerk, und die gigantischen Stahlplatten, die zwischen ihnen so leicht hin- und herrollten und abgesenkt wurden auf das gerade im Bau befindliche Schiff auf der Helling: als schwebten dunkle Riesenpapiere durch die Luft. Ihr hättet wohl kaum Augen dafür gehabt, hattet nur Augen für euch. Mutter sagt, mittwochs, sonnabends oder sonntags seien sie hinausgezogen, ihre Clique und sie, zum Tanzen in den »Wendenkrug«, zu Fuß natürlich, und zu Fuß auch wieder zurück. Um acht Uhr abends ging es los, am Wochenende war erst um Mitternacht Schluss. Es sei immer voll gewesen, und immer wären auch Offiziere wie du erschienen. Manchmal sei es zu Streitereien gekommen, und gelegentlich hätten sie sogar in |160| einer wilden Schießerei geendet. Dann sei alles nach draußen gestürzt und hätte sich hinter Bäumen und Gebäudevorsprüngen verschanzt, zum Glück habe es aber nie Tote gegeben, nicht einmal Verletzte. In der Mitte des Saales habe sich die Kapelle von »Onkel Paul«, so sei die Gruppe genannt worden, positioniert, und dann hätte sie noch jedes Mal mächtig aufgespielt und Stimmung verbreitet, drei Mann an der Zahl: einer bediente das Schlagzeug, einer das Schifferklavier, die sich darin abwechselten, Onkel Paul aber spielte die Geige. Er spielte nur seine Geige. Die Mädchen, sagt Mutter, hätten immer genau Ausschau gehalten, mit wem von den anwesenden Männern sie tanzen wollten und mit wem nicht. Wenn einer gekommen sei, den sie nicht gewollt hätten, seien sie schnell zur Toilette gelaufen. Mit dir wollte sie tanzen, und du mit ihr. Bald habt ihr beide mit niemand anderem mehr getanzt. Mutter sagt, sie wäre schon damals sehr eifersüchtig gewesen, auf dich, auf mich war sie es später auch, wenn ich als kleiner Blondschopf anderen jungen Frauen zu gut gefiel, einmal einer Krankenschwester, nach einer Operation, ein andermal einer Erzieherin in einem Kurheim im Harz, die mich danach in die Sommerferien zu sich und ihrer Familie einlud, und du? Wohl nicht weniger, so wie du auf sie gewartet hast, wenn sie dich wieder einmal zappeln ließ und zu spät kam, mit Absicht, wie sie mir verraten hat. Eine Art Beweis für sie, Liebesbeweis, dass sie dir nicht egal war. Du konntest bald auch schon Deutsch sprechen wie sie Russisch. Fast jeden Tag, sagt sie, hättet ihr euch getroffen. Als Offizier hattest du ja eine eigene Wohnung, außerhalb der Kaserne, am Lembkenhof, in jenem Viertel der Stadt, wo sich in einem anderen Gebäude auch das Hauptquartier des Geheimdienstes befand, in dem man sie später in der

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