Vereister Sommer
sie von den Mitarbeitern des Nachrichtendienstes des MGB (Ministeriums für Staatssicherheit), Militärabteilung 44400, verhört. Dabei hatte sie zugegeben, daß sie den Leutnant Fedotow überreden wollte, die Heimat zu verraten.
In diesem Zusammenhang wurde am 30. 08. 1950 ein Antrag zur Verhaftung der Schacht an den Militärstaatsanwalt der Militärabteilung 61226 gerichtet. Der Militärstaatsanwalt der Abteilung 61226 hatte die Verhaftung von Schacht nicht genehmigt.
Am 31. 08. 1950 wurden die Materialien zur Verhaftung der Schacht dem Militärstaatsanwalt der Abteilung 92401 übergeben. Auch dieser hatte die Verhaftung abgelehnt. Am 01. 09. 1950
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wurden die Akten von Schacht dem Nachrichtendienst der Militärabteilung 44400 zurückgesandt.
Erst am 11. 09. 1950 konnte der Militärstaatsanwalt der Abteilung 48240 die Verhaftung der Schacht genehmigen.
Leiter der Untersuchungsabteilung MGB der Abteilung 44400, Kapitän Unschakow, den 05. 11. 1950.
Dieses Blatt hält wahrscheinlich etwas sehr Ungewöhnliches fest, auch Oberst Kopalin sprach von einer eher seltenen Erscheinung: nämlich dass zwei Menschen in Stalins Terrorapparat, Militärstaatsanwälte, deren Namen leider nicht auf dem Papier festgehalten sind, im Falle von Mutter und dir keinen Anlass sahen, die Falle, in die ihr geraten wart, endgültig zuschnappen zu lassen. Reichte es ihnen, dass du, Vater, vehement abgelehnt hattest, mit Mutter in den Westen zu gehen? Und konnten sie erkennen, dass Mutters Frage, es zu riskieren, ohne alle politische Motivlage, einfach aus existentieller Not, an dich gerichtet worden war, schließlich war ein Kind unterwegs? Hatten sie also schlicht unter den herrschenden Verhältnissen bewahrt, was längst und wieder und wieder als unzulässige Sentimentalität gegenüber dem Feind ausgetrieben sein sollte: ihr menschliches Mitgefühl, im Unterschied zum Staatssicherheitsmajor Abutidse, der schließlich doch noch einen Justizoffizier ohne Skrupel fand, dessen Name wie der seiner skrupulösen Kollegen ebenfalls nicht in den Akten zu finden ist und der Abutidse die Scheinlegitimation aushändigte, damit er sein junges Jagdwild nicht wieder freilassen musste und so seine Produktionsbilanz in Sachen Menschenunglück um einen weiteren Prozentpunkt steigern konnte, wenn es denn schon nicht zu einer doppelten Höchststrafe reichte, die für dich, Vater, den Erschießungstod bedeutet hätte und für Mutter mindestens 25 Jahre Arbeitslager. Mindestens. Denn sie hatten, wie wir wissen, das mögliche eine |167| Vierteljahrhundert, wenn es darauf ankam, auch als dreifache Perspektive im Repertoire. Mutter sollte noch Frauen begegnen, denen dies geschehen war. Der Artikel 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR in seiner damaligen Fassung gab das alles prinzipiell her. Ihm war quasi ein Massakerpotential eingeschrieben, und Kopalin hat mir gesagt, Mutters Glück im Unglück sei
ich
gewesen, ihre Schwangerschaft mit mir, ohne mich hätten sie ihn voll ausschöpfen können, den Artikel und seine mehrfach auftauchende Todesformel von der möglichen »schwersten Kriminalstrafe – Erschießung«. Auch für
sie
, deine Christa, wie Kopalin ebenfalls sagte.
Abutidse
. Ein banaler Schreibtischtäter von Tausenden, opferplankennziffernbewusst, der vielleicht sogar noch lebt? Oder ein unersättlicher Sadist, wie Berija, sein Chef, der sich besonders an den Qualen unschuldiger junger Frauen weidete und abartige Phantasien bediente? Möglicherweise ging es aber auch nur ganz einfach um Prämien, Orden, Karriere, und heute wohnt er vielleicht wie ihr in Moskau, der Herr Abutidse, in irgendeinem Nachbarblock, und trägt an Feiertagen für Veteranen, wir haben in den zurückliegenden Tagen eine ganze Reihe von ihnen auf der Suche nach dir getroffen und gefilmt, auch den Orden, den er für seine Jagdbilanz 1950 erhalten hat? Er hat jedenfalls die Akte, als sie ihm auch beim zweiten Versuch als offensichtlich unzureichend auf seinen Schreibtisch zurückgeschickt und der erbetene Haftbefehl ein weiteres Mal verweigert wurde, eben nicht zugeklappt und die denunzierte Sache auf sich beruhen lassen, sondern nur das schöne alte, magisch inspirierte Sprichwort, dass aller guten Dinge drei sind, ins unreine Gegenteil verkehrt: Nun waren aller
bösen
Dinge drei. Und du weißt nichts von ihm, wenn er an dir vorbeiläuft, weil du ihn nicht kennst. Vielleicht ist er aber auch 1953 mit dem Sturz Berijas in den
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