Vereister Sommer
Phantasie lagen. Du aber |163| wirst gewusst haben, was tatsächlich auf dem Spiel stand, was darum alles möglich war und was deshalb ums Verrecken vermieden werden musste.
Aber hast du auch jemals erfahren, was ich schon seit 1993 weiß, aus einem Brief von Konstantin Issakow, und was mir Oberst Kopalin vor wenigen Tagen in Moskau mit einem Blick in die Akten nur bestätigen konnte? Dass kein anderer als dein Freund
Wassilij
es war, der Mutter den Personalausweis stahl, nach dem man sie während der Untersuchungshaft wochenlang bis zum Nervenzusammenbruch befragte, mit dem Verdachtstenor, welchem westlichen Agenten sie ihr Dokument ausgehändigt habe? Konstantin hat dieses dunkle Geheimnis, das dich vielleicht viel mehr erschüttern wird, wenn du es erfährst, als es uns erschüttert hat, vor sechs Jahren gelüftet, als er im Archiv erstmals Einsicht in eure Geheimdienstakte nehmen konnte, und mir umgehend davon Kenntnis gegeben. Und vorgestern nun las mir Kopalin aus derselben Akte vor, und auch er konnte mir nur mitteilen, dass Wassilij, dein Freund, zum Verräter an eurer Freundschaft und deiner Liebe zu Mutter geworden ist, und er fügte hinzu, dass es Wassilijs deutsche Freundin gewesen sei, die Mutters aus Verzweiflung geborene Fluchtidee, um zukünftig nicht mit zwei Kindern und ohne Mann durchs Leben gehen zu müssen, an den MGB weitergegeben habe, sie hat für ihn gearbeitet. Kann es sein, dass du dich in der bedrängenden Lage deinem engsten Freund Wassilij anvertraut hast, was du machen, wie du dich verhalten solltest, Mutter gegenüber? Und dass Wassilij und seine deutsche Geliebte, eure Freunde, nichts anderes zu tun gehabt haben, als ihr unter dem Siegel des Vertrauens erhaltenes Wissen, diese hingeworfene Notidee, an diejenigen weiterzugeben, deren Tätigkeit aus nichts anderem bestand, als aus tragischen Geschichten solcher Art Erfolgsgeschichten im Rahmen ihrer Schreckensbilanz zu machen?
Denn es wird ja, so zeigen es die Akten, eigentlich noch viel unglaublicher: Der zuständige MGB-Offizier Abutidse |164| ordnete unter dem Datum des 30. August 1950, »bestätigt« von seinem Vorgesetzten, dem »Leiter des Nachrichtendienstes MGB, Militär-Revier Nr. 14749, Oberstleutnant Gornostajew«, also gut zwei Wochen nach ihrer Festnahme, die sogenannte »Verhinderungsmaßnahme«, die er schon längst durchgeführt hatte, intern überhaupt erst einmal an:
Ich, Oberbevollmächtigter des Nachrichtendienstes des MGB, Militärabteilung 14749, Major Abutidse, nach Prüfung der verbrecherischen Tätigkeit von
Wendelgard
Schacht
, geb. 1927, wohnhaft in Wismar/Land Mecklenburg, deutsche Bürgerin, aus einer Arbeiterfamilie, ohne bestimmten Beruf, ledig, Schulausbildung 10 Klassen, nicht vorbestraft, parteilos,
habe Folgendes
festgestellt:
Schacht, Wendelgard, hat ein Verbrechen gemäß Artikel 17-58-1 »b« UK RSFSR begangen. In Anbetracht des schweren Verbrechens von ihr und aufgrund der Tatsache, daß sie vor einer Voruntersuchung und Gerichtsverhandlung umgehend flüchten kann, sowie lt. Artikel 145 und 158 UPK RSFSR, wurde
Folgendes beschlossen:
Als Verhinderungsmaßnahme im Zusammenhang mit der Voruntersuchung und der Gerichtsverhandlung gegen Wendelgard Schacht, ist es notwendig, sie zu verhaften, worüber die Inhaftierte, lt. Artikel 146 UPK RSFSR, gegen ihre Unterschrift in Kenntnis gesetzt wurde.
Lt. Artikel 160 UPK RSFSR ist der Militäranwaltschaft der Militärabteilung 61226 eine Kopie der Anordnung zu übergeben.
|165|
Oberbevollmächtigter des Nachrichtendienstes des MGB, Militärabteilung – Major –
Abutidse
Denn jetzt erst, so geben die Akten weiter preis, war es dem diensteifrigen Menschenjäger Abutidse, offensichtlich einem georgischen Landsmann Stalins und Berijas, gelungen, von einem Militärstaatsanwalt die Genehmigung für seine längst vollzogene Verhaftung von Mutter zu erlangen, die ihm ein »Militärstaatsanwalt des 482. Reviers« und »Oberst der Justiz« schließlich auch erteilte, nachdem zuvor zwei andere Militärstaatsanwälte, ich hätte so etwas niemals für möglich gehalten, es abgelehnt hatten, eben dieser Bitte des Kaukasiers, der es bis an die äußerste Grenze des Imperiums nach Westen geschafft hatte, zu entsprechen:
Bescheinigung
Schacht, Wendelgard, Ursula, Lisa, Charlotte, wurde am 15. 08. 1950 von der Deutschen Polizei verhaftet und bis zum 10. 09. 1950 inhaftiert. Während dieses Zeitraums wurde
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