Vereister Sommer
Orkus gefallen, liquidiert wie so viele seines Schlages und Milieus davor und danach. Ich gebe zu, es erschiene mir am gerechtesten.
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4. April 1999, 14 Uhr 43, Moskauer Zeit
Der alte Mann vor meinen Augen – bekleidet mit einer dunklen Hose, einem nordisch gemusterten Hemdpullover unter brauner Lederjacke und einer keck auf dem Kopf sitzenden Strickmütze – hat sich vom rostigen Torpfosten, an den geschmiegt er mich erwartet hat, gelöst, wie Slavik, mein brüderlicher Führer an dieser Schwelle, sich von mir: Unaufhaltsam treiben jetzt unsere Körper, die bis in die letzte Tiefe ihres Zellgrundes miteinander Informationen teilen –
Wissen
, das nichts wissen muss voneinander, um voneinander zu wissen –, aufeinander zu. Von keiner inneren oder äußeren Barriere mehr zurückgehalten.
Vater
, möchte ich sagen, aber kein einziges Wort verlässt meine Lippen: Was zu sagen wäre geschieht. Niemand ist mehr im Raum unter freiem Himmel, außer uns. Keine Birken, kein Schnee, keine Freunde, keine Fremden, keine Kamera, keine Wörter und Sätze aus den Mündern der Zeugen. Stille. Nur vier Hände und Arme, die Hände und Arme von Vater und Sohn,
unsere
Arme und Hände, durchstoßen die Luft, ergreifen, berühren, erfassen sich: ein lautloser Urknall, die Dehnungssekunde des ersten Moments, Potenz wird zum zweiten Mal Realität: die dazugehörigen Körper verschmelzen in der Doppelfiguration einer Umarmung, der ein ganzes halbes Jahrhundert den Entfaltungshorizont lieferte. Was ist Weltgeschichte, wenn sie auf solch eine Sekunde und Konstellation zusteuert? Nur widerlegt? Oder auch überwunden? Denke ich das? Oder denke ich überhaupt? Und wenn nichts, was denke ich dann? Was also geschieht wirklich? Und wer treibt das, was wirklich geschieht, an?
Die Umarmung hört nicht auf, ich beginne in ihr zu ertrinken, ringe nach Luft, will und muss aufsteigen aus diesem tosenden Ozean der Gefühle und wende, noch immer in die Umarmung mit dem Vater verstrickt, den Kopf zurück, Ausschau |169| haltend nach Konstantin, der meine und Vaters Sprache spricht und nun übersetzt, was ich zu sagen habe, dem Mann, der bis vor wenigen Tagen noch Furcht hatte, mir zu begegnen, Abwehrgesten produzierte und reproduzierte, Fluchtinstinkten vor der Rückkehr einer versunkenen Zeit zu folgen versuchte, auf seine etwas hilflose, etwas komische Frage, wie alt ich sei: »Achtundvierzig Jahre«, sage ich und füge hinzu: »Eine schwierige Geburt, aber wir haben es geschafft!« Und während Konstantin das von mir Gesagte übersetzt, so dass der alte Mann, der mich immer noch fest an den Händen hält, sie unentwegt schüttelt, das soeben Vernommene auch versteht, höre ich seine Antwort: »Danke schön!« Er sagt nicht:
Большое сnасuбо!
Er sagt: »Danke schön!« Auf Deutsch. Wann hat er zum letzten Mal ein deutsches Wort ausgesprochen? Und dazu ein so strahlendes Gesicht gemacht wie jetzt?
Sein
strahlendes Gesicht, von dem Mutter erzählt hat, dass sie es wieder und wieder sehen wollte, ihn auch deshalb warten ließ. Wer wollte unsere Gesichter strahlen sehen, nach so langem Warten?
Vor zwei Stunden war der, der mich noch immer festhält mit der Kraft und Sanftheit seiner ganzen Erscheinung, dessen Händedruck ich immer noch spüre, wie die sekundenlange Umarmung zuvor in den längsten Sekunden meines bisherigen Lebens – vor jenen einhundertzwanzig Minuten war er, der nun, mit vierundsiebzig Jahren, zum dritten Mal Vater eines Sohnes geworden ist, wie ich, mit achtundvierzig, zum ersten Mal Sohn eines Vaters, für mich nichts anderes als das blasse Abbild eines Photos auf einem kopierten Aktenblatt aus dem Militärarchiv der ehemaligen Sowjetarmee, das mir vor einem halben Jahrzehnt per Post aus Russland in die Hände flatterte, in meine Hände, die jetzt von den seinen umschlossen, die festgehalten, nicht losgelassen werden. Ein Aktenblatt mit dem Passbild eines jungen Mannes in der Uniform der Roten Armee. Die Spalten daneben verzeichnen |170| seine Dienst- und Einsatzorte als Soldat und Offizier zwischen Mai 1944 und Dezember 1949, bevor er nach Deutschland kam, nach Wismar. Noch im Krieg, mit neunzehn, hat er, so ist es handschriftlich vermerkt, aber deshalb durch die schlechte Kopie nur schwer zu entziffern, als Kundschafter der 54. Schützenabteilung des 125. Artillerieregiments an der, wahrscheinlich, 3. Ukrainischen Front gedient, die in dieser Zeit unter Marschall Rodion Malinowskis Befehl stand. Mit
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