Vereister Sommer
deinen Sohn, den du jetzt zum ersten Mal siehst, zum ersten Mal ihrer Mutter zeigen konnte, im Mai 1951, da lebtest du schon ein halbes Jahr am anderen Ende der Welt, selbst von Moskau aus sind es ja immer noch über sechstausend Kilometer! Seit wenigen Tagen weiß ich das, Vater, aus dem Mund von Oberst Kopalin, er hat es mir vorgelesen, aus eurer Geheimdienstakte, mit dem berühmt-berüchtigten Aufdruck: ХРАНИТЬ ВЕЧНО. – »EWIG AUFBEWAHREN.«, der sich, wie wohl auch du weißt, auf allen Akten dieser Institution befand, in denen so unendlich viele furchtbare Menschenschicksale zu langsam verblassenden Papierseiten wurden. Nach Tschita hätten sie dich versetzt, wegen moralischer Unzuverlässigkeit, fügte er hinzu, so stünde es da, auf einem Extrablatt, er zeigte es mir, unter der Überschrift:
Bescheinigung, gegeben vom Leiter der Sachbearbeitung, Militärabteilung 33473: Leutnant Fedotow,
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Wladimir Jegorowitsch, wurde, als moralisch nicht gefestigte Person, in Begleitung eines Offiziers derselben Militärabteilung am 26. 10. 1950 bis zur Station Brest gebracht und zum weiteren Militärdienst in der Sowjetunion an den zuständigen Militärangehörigen übergeben. Leiter der Untersuchungsabteilung des MGB der Abteilung 44400, Kapitän Unschakow, den 5. November 1950
. Und gestern hat mir auch Jurij bestätigt, dass du dort warst, geheiratet hast und Slavik zur Welt gekommen ist. Tschita, das ist ja ein bekannter Ort für Verbannte und Strafversetzte, schon zur Zarenzeit. In einem Buch über die Dekabristen habe ich das einmal gelesen, viele von denen, die in den Aufstand in St. Petersburg verwickelt gewesen waren, sind dort hingeschickt worden, mit Frauen und Kindern, das ist mir in dem Moment wieder eingefallen, als ich den Namen jetzt hörte. Ich habe das Buch noch in Wismar gelesen, vielleicht mit vierzehn, fünfzehn, genau kann ich es nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass es mich tief beeindruckt hat, aber ich habe seinen Titel vergessen, auch den Autor weiß ich nicht mehr.
Du
musstest allein dorthin: die Freundin im fernen Deutschland im Gefängnis, euer Kind in ihrem Leib. Ob du einen Sohn haben würdest oder eine Tochter, dies stand für dich in den Sternen!
Dein
erstes Kind: verloren, bevor es geboren war. Was dachtest du auf diesen Tausenden von Kilometern Eisenbahnfahrt mit der Transsib, damals, als da auch noch Züge in den Gulag rollten, der dir zum Glück erspart blieb, heute ist das ja ein Touristenschlager, die Tour, gelegentlich sieht man im deutschen Fernsehen Filme darüber, es muss, aus dieser Perspektive, ein grandioses Erlebnis sein. Hast du bereut, dass ihr euch begegnet wart? Hat sie dir leidgetan? Hast du sie vermisst? Oder hast du alles schnell vergessen? Das habe ich Jurij gestern auch gefragt, und er, der von deiner Geschichte mit Mutter nicht das Geringste gewusst hat, hat eine ganze Weile überlegt, bis er mir die kluge und schöne Antwort gab: »Vergessen? Ich weiß nicht! Vielleicht nicht?!« Erst 1956 seist du wieder in die |158| entgegengesetzte Richtung gezogen, nach Moskau, wo er dann geboren wurde, erzählte er mir weiter. 1956: Da war ich, dein ältester Sohn, schon fünf und seit zwei Jahren wieder mit Mutter zusammen, in Wismar, wo ihr euch kennengelernt habt.
O ja, sie hat mir erzählt von eurem kurzen Zusammensein in jenem Winter, Frühjahr und Sommer 1950, nicht nur einmal: Wo und wie ihr euch kennengelernt habt, was für ein Temperament du warst, du konntest schon mal aus reinem Übermut mit der Pistole auf eine Fliege schießen, die auf der Chaiselongue in deinem Zimmer scheinbar sinnlos herumlief. Dass deine Familie im Krieg umgekommen sei, in Leningrad, und du dich deshalb an den deutschen Frauen rächen wolltest, und wie aus deiner Rache nichts wurde, weil du
ihr
begegnet bist – da, wo sich junge Leute oft begegnen: in einem Tanzsaal. Erinnerst du dich noch an den Tanzsaal im Gasthaus »Wendenkrug« am westlichen Stadtrand von Wismar, nahe der Kaserne, in der du stationiert warst? Mutter sagt, es sei im Winter gewesen, als ihr euch dort zum ersten Mal gesehen habt, Januar oder Februar 1950. Selbst ich kenne das Haus noch, zu meiner Zeit war es ein Kino, jedenfalls wurden dort auch Filme gezeigt, vom mobilen Landfilm, es war ja alles noch sehr dörflich drumherum und bis zur Innenstadt von Wismar mindestens fünf Kilometer: ein flacher, einstöckiger Bau aus gebrannten Ziegeln, im Laufe der Zeit um Anbauten erweitert, Bäume davor,
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