Vereister Sommer
ihr ist er offenbar, wie er auch Mutter erzählt hat, bis in die Tschechoslowakei gekommen. Danach versetzte man ihn wieder zurück nach Russland. Die Liste verzeichnet als neue Dienst- und Weiterbildungsorte die Städte Sluzk in Weißrussland, zu finden auf halber Strecke zwischen Minsk und Pinsk, das über vierhundert Kilometer südöstlich von Moskau gelegene Tambow, wo er an der Artillerie-Fachschule ausgebildet wird, schließlich ist er »Militärschüler« auch noch in Arsamas, einer Stadt in der Nähe von Nischni Nowgorod. Zeitlich alles kurze Etappen; die längste aber, die über den deutschen Umweg noch vor ihm liegt, die in Tschita – von ihr wie von der deutschen weiß das Aktenblatt buchstäblich nichts.
Gestern, am 3. April, haben wir mit diesem einen Blatt in der Hand und dem Wissen um Vaters Blockadehaltung, deren Grund ich auch jetzt noch nicht kenne, Jurij überfallen, er steht irgendwo hinter mir, auf Abstand, wie alle, die nun Zeugen dieser so lange unwahrscheinlichen Urbegegnung geworden sind – keiner will Vater und mir zu nahe treten in diesem Moment, auch deshalb weiß ich nicht, was sich jetzt in ihren Gesichtern abspielt. Gestern aber habe ich, haben wir es gesehen, Jurijs Gesicht, als ihm Konstantin in der offenen Wohnungstür im obersten Stock des Wohnblocks in der Profsojesnajastraße 97 offenbarte, warum diese Meute wildfremder Menschen, zudem bewaffnet mit einer großen Filmkamera und kiloschwerer Tontechnik, warum sie ausgerechnet bei ihm geklingelt hat, am frühen Samstagnachmittag um drei. Vollkommen überrascht, und vielleicht mehr als das, hat er uns |171| trotzdem in die Wohnung gelassen, vorbei an einem vom Griff einer Sportkarre aufsteigenden, langen weißen Luftballon mit lustigem Gespenstergesicht, und sich zugleich auch noch entschuldigt, dass es nicht ganz so aufgeräumt wäre, er hätte auch gerade unter der Dusche gestanden. Der Einzige, der richtig Krach machte, war der kleine Hund der Familie, und dann erschienen Rima, Jurijs Frau, und Julia, die vierzehnjährige Tochter, und eine winzige Alexandra war auch noch da. Während wir in den folgenden drei Stunden miteinander sprachen, Photos anschauten und Jurij mit einer Geschichte konfrontierten, die ihm, wie er bald bekannte, unbegreiflich war, vollkommen unbegreiflich, wurden wir nicht nur von unserem eigenen Kameramann gefilmt, auch die kleine Julia agierte wie der große Adri aus Amsterdam: mit ihrer Videokamera, und sie machte es sehr geschickt und ohne jede Scheu. Aber das war nicht nur fürs filmische Familienalbum gedacht, sie hat ihren Film heute Vormittag, schon hier in Schalikowo, Vater gezeigt, und ihn so mit den von ihr gedrehten lebendigen Bildern vorbereitet auf mich, seinen Sohn, ihren Onkel aus Deutschland, der gestern urplötzlich in der Wohnungstür stand und mit ihrem Vater, seinem Bruder und all den anderen im Wohnzimmer einen ukrainischen Wodka zur Begrüßung trank. Eine vollkommen verrückte Geschichte, die sie gleich weitererzählen musste, und natürlich hat sie heute ihre beste Freundin dabei.
Jurij aber, der ohne Vorwarnung Heimgesuchte, er war mein Türöffner bei Vater, der nun nicht mehr schweigen konnte – er wusste es ja, wer sich da, aus der Ferne des Raumes wie der Zeit kommend, seit Tagen in Moskau aufhielt und versuchte, in immer neuen Anläufen an ihn, den verlorengegangenen Vater, heranzukommen. Ich kenne die Dialoge nicht, die nach unserem gestrigen Abrücken aus Jurijs Wohnung zwischen Jurij, Slavik und Wladimir Jegorowitsch stattgefunden haben; aber die Konsequenz daraus ist unübersehbar: Das Eis ist seitdem gebrochen, und mir wird in diesem Moment, erst jetzt, mit aller Macht bewusst: Zu Hause, in |172| Deutschland, ist heute, an diesem 4. April 1999, mitnichten ein normales Wochenende – zu Hause ist
Ostern.
Ostersonntag. ВОСКРЕСЕНИЕ, heißt das damit verbundene, ziemlich überirdische Ereignis auf Russisch, das bei uns, im Reich des gregorianischen Kalenders, schon jetzt gefeiert wird: »Auferstehung«. Gemäß dem julianischen Kalender werden auch die Kirchen hierzulande in dreizehn Tagen von diesem Wort, gesungen und gesprochen, erfüllt sein wie nur noch vom Duft des Weihrauchs und dem Licht zahlloser Kerzen. Wenn ich aus dem Fenster meines Hotelzimmers blicke, sehe ich, neben Straßen, einem Birkenhain und Häuserblöcken, hinter denen die Moskwa strömt, auch die fünf Zwiebeltürmchen der Zachatiya-Anny-Kirche – vier blaue, ein goldenes, mal im
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