Verflixte Hühnersuppe (German Edition)
Zähnen. Als ich zu dem einzigen Gast der Wirtschaft schlendere, hinterlasse ich eine breite Wasserlache.
Die Frau auf der Bank hat die grauen Haare hochgesteckt und blickt angestrengt auf eine sorgfältig ausgebreitete Zeitung. Unter dem Tisch wackelt sie mit den Füßen im Einklang mit der Musik, die ich in die Kategorie „Schnulze“ einordne und verzweifelt zu überhören versuche. Trotz des Sauwetters hat sie Sandalen an. Immer und überall läuft sie mit bloßen Füßen herum, so, als spüre sie die Kälte nicht.
„Können wir nicht woanders essen? Hier stinkt’s!“, flüstere ich Anna zu.
Anna schaut lächelnd auf und schüttelt den Kopf. Ihre Augen leuchten ungewöhnlich sanft und ihr Gesicht ist von roten Flecken übersät. Am Hals trägt sie eine Perlenkette, die ich ihr schon vor zwanzig Jahren geschenkt habe, passend zu dem hellgrauen Pullover. Immer trägt Anna Röcke, heute ist es der blau-grün karierte.
Lächelnd beugt sie sich wieder über die Zeitung und tippt mit dem Finger auf eine Textspalte. „Frau Seeberg lässt mich umsonst telefonieren, damit wir bald ein neues Zuhause finden. Sie ist sehr freundlich.“
Ich lasse mich auf die zerschlissene Bank fallen. Soweit ich das beurteilen kann, hat Frau Seeberg es dringend nötig, Telefongeld zu kassieren. „Können wir nicht in eine andere Stadt ziehen? Möglichst weit weg von hier?“, frage ich ungeduldig.
Anna lässt den Stift aufs Papier fallen. „Sie haben dich in die sechste Klasse gesteckt, stimmt’s?“ Jetzt wippt sie sogar mit dem Kopf und grinst dabei.
Ich schüttle den Kopf. „In die achte.“
Trotzdem will ich so schnell wie möglich fort, vielleicht ist meine Begegnung mit Dulack schon zu auffällig gewesen. Vielleicht werden jetzt feindliche Spitzel auf mich aufmerksam. So wie ich Dulack kenne, wird er keine Ruhe geben, bis er mein Geheimnis herausfindet. Wahrscheinlich wird er mich nicht verpfeifen – aber kann er es knacken, wird es auch für andere leicht sein. Das sage ich Anna natürlich nicht, denn sie hat keinen blassen Schimmer von den Gefahren in meinem Leben. Allerdings lehnt sie sich so entspannt auf der Bank zurück, dass ich jetzt richtig unruhig werde. „Was ist mit dir? Du siehst so … so anders aus …“, frage ich vorsichtshalber schon einmal.
Anna lächelt. Ihre Augen leuchten schon wieder – und das verwirrt mich noch mehr. „Es ist so schön hier!“, ruft sie aus.
Ich runzle die Stirn und versuche durch die getönten Scheiben der Gastwirtschaft hindurch einen Sonnenstrahl zu sehen, der irgendetwas verschönert. Aber das Wetter bleibt düster und grau.
„Hier!“, sagt Anna fröhlich und legt mir einen Stapel Hefte hin. „Volkshochschul-Kursheft, Jugendbildungsstätte, evangelische und katholische Arbeitsgemeinschaft, das übliche, du weißt schon. Eine Bücherei gibt’s hier auch, aber die hat nur dienstags und freitags geöffnet. Für heute ist Chan-Shaolin-Chuan-Fa in der Turnhalle deiner Schule angesagt, danach Bauchtanz für Erwachsene.“
Ich stöhne. „Bauchtanz? Da treffen sich sicher wieder nur Omis. Den Kampfsport werde ich mir sicher mal ansehen. Ist mehr als ich in diesem Kaff erwartet habe.“
Anna sieht beleidigt auf. „So schlimm ist es in Birkenbleich nun auch wieder nicht!“
„Aha, das weißt du also schon?“
Sie antwortet nicht, doch ihre Mundwinkel zucken verräterisch. „Ich habe nach möblierten Zimmern gesucht und zwei ausfindig gemacht. Frau Seeberg bringt uns gleich etwas zu essen, dann werden wir sie besichtigen.“
Zufrieden lehnt sie sich zurück. Anna wirkt aufgrund ihrer grauen Haare älter als sie eigentlich ist und ihr Lächeln ist immer gütig. Ich erinnere mich noch an die ersten Jahre mit ihr, sie war sehr quirlig und fröhlich und sie kam mir damals vor wie eine Vagabundin, eine, die nach etwas suchte und es nicht fand.
Wie Amarelia es geschafft hatte, eine Ersatzmutter für mich zu finden, ist mir bis jetzt schleierhaft geblieben. Ich hätte auch niemals daran gedacht, dass die Magd irgendwann sterben würde, doch 15 Jahre nach unserer Ankunft auf der Erde war sie ganz einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Mir ist damals schlagartig bewusst geworden, wie sehr ich Amarelia gemocht hatte. All die Jahre hatte sie sich um mich gekümmert. Mein Herz war nur noch Pflaumenmus. Dreißig Tage habe ich gefastet, den Kristall verflucht und auch meine Eltern, die mich auf diesem verdammten Planeten deponiert hatten wie einen alten
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