Verflixte Hühnersuppe (German Edition)
wüssten, wo ich stecke! Es sei denn … ich trenne mich von dem Trigonischen Kristall. (5)
„Iss doch etwas!“, reißt Anna mich aus den Gedanken. „Wir werden schon noch eine Lösung finden. Franz hat mir von seinem Sohn erzählt, der mit seiner Freundin durch die Welt pilgert. Vielleicht kannst du mit ihnen ziehen? Das wäre sicher spannend!“
Ich spieße eine noch nicht angebrannte Kartoffelscheibe auf. „Ich weiß nicht. Wenn sie von meiner Krankheit erfahren …“
Langsam beugt sich Anna vor und blickt mir tief in die Augen. „Es ist keine Krankheit, stimmt’s?“
Ich erwidere nichts. Natürlich kennt Anna meine wahre Geschichte nicht. Amarelia hat es vorgezogen, ihr von einer seltenen Krankheit zu erzählen, die mich nicht altern lässt. Nie hat Anna sie infrage gestellt – oder hat sie schon immer etwas geahnt?
„Du bist nicht von dieser Welt!“, flüstert Anna und wirft Frau Seeberg einen flüchtigen Blick zu. Die Wirtin steht hinter dem Tresen und wischte über die Regale. „Du liest die ganze Nacht und tagsüber beobachtest du die Menschen. Du hast Angst, dass dich jemand findet. Es ist nicht nur dein Alter, das dir Sorge bereitet.“
Verflixte Hühnersuppe! Seit 22 Jahren leben wir zusammen und nun hat sie herausgefunden, dass ich sie die ganze Zeit über belogen habe! Und das von Anfang an!
„Ich bin dir nicht böse“, sagt Anna gelassen. Sie lächelt und mir tut es weh, in ihr Gesicht zu blicken. „Du hattest bestimmt Angst davor, dass ich zur Presse gehe und viel Geld für dein Geheimnis kassiere. Aber das tue ich nicht, niemals!“
Ich spüre einen fetten Klumpen im Hals. Puh, da braut sich im Kessel aber gewaltig was zusammen! Mir ist das alles nicht nur obermächtig peinlich, sondern ich bin kurz davor, unter Frau Seebergs schmutzige Fußmatte zu kriechen. Schnell senke ich den Kopf und stochere angestrengt in meinem Essen herum. Vielleicht ist ja doch noch etwas Genießbares darin …
„Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst“, fährt Anna fort. „Du kannst keine Freunde haben, damit niemand dein Geheimnis ausplaudert. Du hast Sorgen und kannst nicht darüber reden. Du bist auf der Suche nach etwas, was du nicht findest. Und bestimmt hast du auch Heimweh.“ (6)
Jetzt kämpfe ich auch noch mit den Tränen. Kennst du das Gefühl, dass du von innen heraus zerfressen wirst? Dass etwas seine unsichtbaren Klauen um deinen Hals legt und dir den Atem raubt und du wie ein Ertrinkender nach Luft schnappst? Die Erinnerungen an meine Welt verblassen mit jedem Jahr ein bisschen mehr, werden grau und unwirklich. Ich weiß kaum noch, wie meine beiden besten Freundinnen aussehen. Hier auf der Erde geht es mir auch nicht viel besser, am schlimmsten aber sind immer die Abschiede von meinen Klassenkameraden. Gerade haben sie mich in ihrer Runde akzeptiert, da muss ich schon wieder ’ne Fliege machen. Das ist zum Aus-der-Hose-Flippen, wenn du’s genau wissen willst. Das verkraftet man ein Mal, vielleicht auch ein zweites Mal, aber beim dritten Mal drehst du einfach durch. Über die Zeit danach sprechen wir lieber erst gar nicht. Die ganzen Jahre bin ich einsam gewesen, dabei hätte ich Anna vertrauen können.
Anna hebt ihr Glas und trinkt das Mineralwasser in einem Zug leer. „Komm, wir müssen aufbrechen! Um halb drei erwartet man uns in der Schreberstraße 15.“
Ich folge ihr zum Garderobenständer, ohne ein Wort zu sagen. Anna reicht mir meine nasse Jacke, wirft sich ihren schweren Mantel um und geht auf die Tür zu.
„Vergiss deinen Schal nicht“, sage ich tonlos, „damit du dich nicht erkältest!“
Anna dreht sich zu mir um. „Seit du bei mir bist, war ich noch nie krank, schon vergessen?“, entgegnet sie und lächelt geheimnisvoll. Sie winkt Frau Seeberg zu und öffnet die Tür.
Der Regen hat aufgehört, nur der Wind peitscht noch durch unsere Haare. Wir müssen unsere Schals festhalten, damit sie nicht fortfliegen. Zum Reden ist es hier draußen viel zu ungemütlich und ich wüsste sowieso nicht, was ich Anna sagen sollte. So bin ich zum ersten Mal froh über das Wetter.
Zielstrebig führt Anna mich durch den Ort, bis wir vor einem Haus stehen, das schon von Weitem wie eine verfallene Scheune aussieht. Zertretene Hundehaufen liegen auf dem Gehweg und das Unkraut kriecht die unbeschnittene Hecke hinauf. Die Haustür sieht aus, als fiele sie gleich aus den Angeln.
„Na ja, vielleicht ist es innen gemütlicher …“, hofft Anna, doch ihr Blick zeigt, dass sie
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