Verflixtes Blau!
weich, und nach der schmerzhaften Begegnung mit der Wand wollte er lieber unten bleiben. Nur ein paar Meter noch, dann würde er vielleicht Licht sehen, und er machte einen langen Hals. Ja, da war definitiv Licht.
Er kam auf die Beine und strebte darauf zu, tastete sich mit den Zehen voran, bevor er es wagte, einen Fuß aufzusetzen. Er sah Umrisse, ein orangefarbenes Rechteck, und erst hielt er es für den Eingang der Mine, doch im Näherkommen entpuppte sich das Rechteck als etwas, das von der Seite her angeleuchtet wurde, und da merkte er, dass der Stollen eine Biegung beschrieb. Es ist eine Leinwand, dachte er, die Rückseite einer Leinwand. Er sah die Nägel im Holz des Rahmens, schimmernd im Lichtschein einer Kerze.
Hinter der Leinwand hörte er angestrengtes Atmen.
Lucien schlich noch etwas weiter um die Biegung und blieb stehen. Hielt die Luft an. Hinter der Leinwand stand ein kleiner Mann, nackt, braun, Füße und Beine weiß vom Gipsstaub, und beugte sich über etwas Dunkles, Langes, das am Boden lag. Mit einer Klinge schabte er an dem dunklen Ding herum. Sie schien aus Glas zu sein, doch auch sehr scharf.
Lucien fing an zu zittern, weil er die Luft anhielt, also gestattete er sich einen Atemzug, langsam, flach, ganz leise. Er spürte, wie das Herz in seinen Schläfen pochte, doch er wagte nicht, sich zu bewegen.
Der kleine Mann kratzte mit der Klinge an dem dunklen Ding entlang, dann strich er sie an einem irdenen Topf ab und seufzte zufrieden. Genau dieselbe Bewegung machte sein Vater, um das Mehl von seinem großen Brotbrett abzukratzen, wenn die Laibe geformt waren.
Dann bewegte sich das Ding am Boden, stöhnte wie ein Tier, und Lucien konnte gerade noch verhindern, dass er vor Schreck aufsprang. Das Ding war ein Mensch, eine Frau, und sie hielt ein Bein in den schmalen Lichtschein der Kerze. Dieses Bein war blau. Selbst in diesem trüben Licht konnte Lucien es genau erkennen. Jetzt sah er auch, wie sie dalag, seitlich auf dem Boden, ein Arm lang ausgestreckt, sodass die Hand im Dunkel verschwand.
Der kleine Mann klopfte die Klinge am Topf ab, dann drehte er sich um, zielte genau dorthin, wo das Gesicht der Frau sein musste, und drückte zu. Die Frau stöhnte auf, und Lucien hielt die Luft an, diesmal mit einem leisen Jaulen.
Da fuhr der kleine Mann zu Lucien herum, die Klinge in der Hand, die Augen im Dunkel wie schwarzes Glas: » Wer ist da?«
» Merde!«, rief Lucien zum zweiten Mal in seinem Leben, wenn es auch wie das Heulen einer Sirene herauskam, als er in die Finsternis stürzte, die Hände vor sich ausgestreckt, und das gellende » merde« hallte hinter ihm durch die Gänge, bis er Tageslicht und den rettenden Ausgang sah– das süße, grüne Licht auf den Dornenbüschen–, und fast war er schon da, beinah am Ziel, als am Eingang der Mine ein langer Arm auf ihn herniederkam und eine Hand ihn packte.
ZWEITER TEIL
Der Blaue Akt
In jedem Bild ist geheimnisvoll ein ganzes Leben eingeschlossen, ein ganzes Leben mit vielen Qualen, Zweifeln,
Stunden der Begeisterung und des Lichtes.
Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst
Wenn Du nun also beispielsweise weißt, dass es Dir nicht guttut, Farben in der Nähe zu haben, wieso räumst Du sie nicht eine Weile beiseite und zeichnest? Ich denke, in solchen Momenten solltest Du lieber nicht mit Farbe arbeiten.
Theo van Gogh, Brief an Vincent 3. Januar 1890
7
Form, Linie, Licht, Schatten
M erde!«, sagte Lucien.Während der Entstehung eines jeden Kunstwerkes kommt ein Moment– unabhängig davon, mit welchem Maß an Fertigkeit und Erfahrung das entsprechende Werk entsteht–, in dem der Künstler von einem Gefühl ekstatischen Entsetzens übermannt wird. Es ist dieser Ach, du Scheiße, worauf habe ich mich da eingelassen? -Moment rasender Panik, ganz ähnlich dem Gefühl, aus großer Höhe abzustürzen. Luciens » merde« -Moment kam, nachdem Juliette das Tuch losgelassen hatte, mit dem sie sich bis eben noch bedeckt hielt, und dann sagte: » Wie willst du mich?«
Und obwohl alles in seinem Leben in gewisser Hinsicht zu diesem Moment, und zwar zu genau diesem Moment, geführt hatte und er auf einzigartige Weise dazu geeignet und auserwählt war, an diesem Moment teilzuhaben, wollte ihm doch beim besten Willen nichts einfallen, was er darauf antworten konnte.
Nun, etwas fiel ihm doch noch dazu ein: Auf dem Diwan, an der Wand, auf dem Boden, gebückt, umschlungen, kopfüber, kopfunter, schnell, langsam, sanft, grob, tief, hart,
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