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Verflixtes Blau!

Verflixtes Blau!

Titel: Verflixtes Blau! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Moore
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so, als wäre ihr nicht bewusst, dass sie nackt war, sondern so, als ließe sie der Welt ein Geschenk zuteilwerden. Einen Moment lang vergaß er, dass er gekommen war, um seinen Freund vor ihrer Niedertracht zu schützen. Ihrer zauberhaften, zauberhaften Niedertracht.
    Henri beugte sich eilig über ihre Hand, dann fuhr er auf dem Absatz herum. » Ich muss dein Bild sehen.«
    » Nein, es ist noch nicht fertig.« Lucien hielt ihn bei den Schultern fest, um zu verhindern, dass er hinter die Leinwand trat.
    » Unsinn, ich male selbst und bin dein Ateliergenosse. Ich genieße besondere Privilegien.«
    » Diesmal nicht, Henri, bitte.«
    » Ich muss sehen, was du damit angestellt hast, mit dieser… dieser…« Er winkte zu Juliette hin, während er versuchte, einen Blick auf die Leinwand zu werfen. » Dieser Form, diesem Leuchten auf ihrer Haut…«
    » Lucien, er spricht von mir, als wäre ich ein Gegenstand«, sagte Juliette.
    Lucien ging in die Hocke und betrachtete sie über die Schulter seines Freundes hinweg. » Sieh dir die feinen Schatten an, weiches Blau, kaum drei Nuancen zwischen dem Schlaglicht und den Schatten. So etwas sieht man nur bei indirektem Lichteinfall. Da die umstehenden Gebäude es zerstreuen, bleibt es fast den ganzen Tag lang so. Nur in den Stunden um die Mittagszeit werden die Schlaglichter zu grell.«
    » Lucien, jetzt sprichst du von mir wie von einem Gegenstand.«
    » Unsinn, chère, ich spreche vom Licht.«
    » Aber du zeigst auf mich.«
    » Wir sollten im Atelier in der Rue Caulaincourt ein Oberlicht einbauen«, sagte Henri.
    » Oben drüber ist eine Wohnung, Henri. Ich fürchte, die Wirkung wäre nicht dieselbe.«
    » Auch wieder wahr. Ist das die richtige Pose? Du solltest sie von hinten versuchen, wenn du mit dem hier fertig bist. Sie hat einen hübscheren Arsch als Velázquez’ Venus in London. Hast du die gesehen? Exquisit! Lass sie dich mit einem Spiegel über ihre Schulter hinweg ansehen.«
    » Bin immer noch hier«, sagte Juliette.
    » Setz einen kleinen, nackten Engel neben sie, der den Spiegel hält«, sagte Henri. » Ich könnte dir dafür Modell sitzen, wenn du möchtest.«
    Die Vorstellung von Henri als behaartem Amor riss Lucien aus seiner Faszination für das Licht auf Juliettes Haut, und er geleitete den Grafen zur Tür. » Henri, ich freue mich, dich wiederzusehen, aber du musst gehen. Treffen wir uns heute Abend auf ein Glas im Chat Noir. Ich muss jetzt arbeiten.«
    » Aber ich habe das Gefühl, als wäre meine Rettung– nun ja– in gewisser Weise nicht recht zufriedenstellend ausgefallen.«
    » Nein, ich habe mich noch nie derart gründlich gerettet gefühlt, Henri. Ich danke dir.«
    » Nun, dann heute Abend. Guten Tag, Mademoiselle«, rief er Juliette zu, als Lucien ihn zur Tür hinausschob.
    » À bientôt«, sagte das Mädchen.
    Lucien schloss die Tür hinter ihm, und Henri stand in dem kleinen, von Unkraut überwucherten Hinterhof, hielt ein Schnapsglas mit einem schweren Messingknauf in der Hand und fragte sich, was da eben eigentlich passiert war. Er zweifelte nicht daran, dass sich Lucien in großer Gefahr befand. Warum sonst war er aus Malromé hierhergeeilt? Warum war er in die Bäckerei gegangen? Warum, um alles in der Welt, war er zu dieser gottlosen, vormittäglichen Stunde überhaupt wach?
    Er zuckte mit den Schultern, und da er das Glas schon in der Hand hielt, zog er die lange, dünne Silberflasche aus dem Stock und schenkte sich einen Cognac ein, um seine Nerven für die nächste Phase der Rettung zu stählen.
    Drinnen im Atelier nahm Juliette wieder ihre Pose ein und sagte: » Hast du Velázquez’ Venus in London schon gesehen, Lucien?«
    » Nein, ich war noch nie in London.«
    » Vielleicht sollten wir sie uns mal ansehen«, sagte sie.
    Toulouse-Lautrec wartete gegenüber in Madame Jacobs crémerie und behielt die Gasse neben Lessards boulangerie im Auge. Als der Abend dämmerte, tauchte das Mädchen auf, genau wie Luciens Schwester es angekündigt hatte. Eilig biss er in ein Stück Brot mit Camembert, das noch übrig war, trank seinen Wein aus, legte ein paar Münzen auf den Tisch und stieg von seinem Hocker herab.
    » Merci, Madame«, rief er der alten Dame zu. » Ich wünsche einen guten Abend.«
    » Danke gleichfalls, Monsieur Henri.«
    Henri beobachtete, wie das Mädchen über den Platz und die Rue du Calvaire hinab zum Fuß des Hügels lief. Noch nie hatte Henri Anlass gehabt, jemanden zu verfolgen, doch sein Vater war ein passionierter Jäger,

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