Verflixtes Blau!
Whistler. Er stampfte mit den Füßen auf, um das Blut in Bewegung zu bringen, dann wischte er ein wenig Ultramarinblau mit einem breiten Zobelhaarpinsel über die Mitte des Bildes.
Er hatte die Farbe so sehr verdünnt, dass er die Leinwand an der Staffelei abstützen und waagerecht halten musste, damit die Farbe nicht verlief, fast als malte er ein Aquarell. Gut, dass er für seine Nachtstücke im Freien arbeitete. Von den Terpentindämpfen wäre ihm sicher schwindlig geworden, wenn er versucht hätte, im Atelier zu malen, im Winter, bei geschlossenen Fenstern. Als würde ihm nicht schon schwindlig genug davon, mit ihr im Atelier allein zu sein.
Jo– Joanna, sein wilder Rotschopf, sein Segen, sein Fluch. Sie war wie eine Erscheinung aus einer Geschichte von Edgar Allan Poe, » Ligia« vielleicht. Außergewöhnlich intelligent, beängstigend schön auf diese unbeteiligte, unberührbare Art und Weise, die er so gern berührte. Doch war er in ihrer Nähe verstört und verlor zunehmend das Zeitgefühl, kam abends ins Atelier und stellte fest, dass er ein Gemälde vollendet hatte, ohne sich daran zu erinnern. Bei diesen Nachtbildern wusste er wenigstens genau, dass er sie gemalt hatte.
Doch wie konnte sie die Ursache für seine– nun– Labilität sein? Und warum ließ diese nach, wenn er bei Nacht arbeitete?
Eine Frauenstimme hinter ihm. » Ich vermute, deinen Schwager aus dem Fenster zu stoßen– das könnte der Moment gewesen sein, in dem alles den Bach runterging. Würdest du das nicht auch so sehen, Liebster?«
Whistler fuhr so schnell herum, dass er beinah seine Staffelei umstieß. » Jo, woher wusstest du, dass ich hier bin?«
» Wusste ich nicht. Ich gehe spazieren. Ich dachte, du bist bestimmt zu Hause bei deiner Mutter.«
Whistlers unerträgliche, puritanische Mutter war aus den Staaten zu Besuch. Sie war herübergekommen, um nach ihm zu sehen, nachdem seine Schwester ihr geschrieben hatte, sie sei in Sorge um sein » geistiges Wohlergehen«, zweifellos ausgelöst dadurch, dass Whistler ihren Gatten durch das Fenster eines Cafés gestoßen hatte.
» Also, das war dämlich«, hatte Jo ihn an jenem Abend gerügt.
» Er hat gesagt, du siehst aus wie meine Privatdirne.« Kaum zu fassen, dass er sich dafür rechtfertigen musste, sie verteidigt zu haben.
An dieser Stelle hatte sie ihr Nachthemd über den Kopf gezogen und sich nackt auf seinen Schoß gleiten lassen. » Wem der Schuh passt, Liebster…«, sagte sie. » Wem der Schuh passt…«
Fast jede Auseinandersetzung mit ihr verlor er auf diese Weise.
Als herauskam, dass seine Mutter in London eingetroffen war, entfernten Whistler und Jo eilig alle Hinweise auf das, was seine Mutter als » dekadentes Leben« bezeichnet hätte – von seiner Sammlung japanischer Drucke über sein Getränkearsenal bis hin zu Jo selbst, die er in sein Atelier in der Nähe umquartierte.
Sobald er ein paar Tage ohne Jos Gesellschaft auskommen musste, fühlte er sich verändert, als kehrte etwas zurück, das er verloren geglaubt hatte, doch träumte er gleichzeitig lebhaft und detailliert von der Arbeit an Gemälden, die gar nicht existierten, und von Reisen zu Orten, an denen er nie gewesen war. Jetzt jedoch, in dieser kalten, feuchten Londoner Nacht, war er von ihr gar nicht so besessen oder inspiriert oder überwältigt, sondern… nun… er fürchtete sich vor ihr.
Mit seiner Palette in der Hand ging Whistler zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange. » Entschuldige, ich experimentiere mit dem Licht auf dem Fluss, indem ich reichlich Öl auftrage, um Atmosphäre zu schaffen.«
» Verstehe«, sagte sie. » Und hält deine Mutter dich jetzt für verrückt?«
» Nein, nur für zutiefst verdorben.«
» Das nehme ich als Kompliment«, sagte sie und schlang ihren Arm um seine Taille. » Hast du schon zu Abend gegessen?«
» Habe ich. Man speist früh, wenn man zu jeder Mahlzeit den Herrn erwartet. Offenbar lebt er nach einem strengen Zeitplan.«
» Komm mit ins Atelier, Jimmy. Ich bereite dir etwas Hübsches.«
» Danke, aber ich habe keinen Hunger.«
» Wer sagt denn was von Essen?«
Er löste sich aus ihrer Umarmung und trat an die Leinwand. » Nein, Jo, ich muss arbeiten.«
» Du tust ja gerade so, als wärst du auf das verdammte Licht angewiesen. Hier draußen ist es finster wie in einem Hundeafter. Komm rein und wärme dich auf.«
» Nein, geh du nur. Ich werde versuchen, dich morgen im Atelier zu besuchen.« Doch er würde sie nicht besuchen. Wenn alles
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