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Verflixtes Blau!

Verflixtes Blau!

Titel: Verflixtes Blau! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Moore
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durchs Fenster hereinzuziehen, aber davon wollte sie nichts hören. Sie balancierte auf dem Dachgiebel entlang, ein Fuß links, ein Fuß rechts. Es war so rutschig, dass sie bei jedem Schritt beinah den Halt verlor. Als sie dann dort ankam, wo sie durch das Oberlicht hineinsehen konnte, riss sie die Augen auf, aber nicht vor Schreck, sondern strahlend wie am Weihnachtsmorgen. Sie drehte sich um, weil sie mir etwas zurufen wollte, verlor den Halt auf dem Dachgiebel und rutschte ab. Ich habe gesehen, wie sie über den Rand glitt, und konnte spüren, wie sie am Boden aufschlug.«
    » Das sind zwei Stockwerke«, sagte Gilles.
    » Sie muss flach auf dem Rücken gelandet sein. Der Arzt konnte keine Knochenbrüche feststellen, und da war auch kein Blut, aber sie war bewusstlos.«
    » Und ist dein Vater herausgekommen?«
    » Nein. Ich habe geschrien und bin zu Marie gerannt. Ein paar seiner Malerfreunde, Cézanne und Pissarro, die gerade aus Auvers da waren, wärmten sich drüben in Madame Jacobs crémerie auf. Sie kamen herübergelaufen und haben geholfen, sie in die Bäckerei zu bringen. Lucien war bei seinem Unterricht, und Maman wurde nicht vor dem nächsten Morgen zurückerwartet. Madame Jacobs Tochter holte den Arzt. Cézanne und Pissarro klopften an die Ateliertür, bekamen aber keine Antwort. Als ich ihnen versichert habe, dass Papa drinnen war, haben sie die Tür aufgebrochen. Da fanden wir ihn, am Boden liegend, mit einer Handvoll Pinsel und einer vollen Palette, allein. Tot.«
    » Mon Dieu!«, sagte Gilles.
    » Der Doktor meinte, es sei sein Herz gewesen, aber er war ausgetrocknet, als hätte er tagelang ohne Wasser in der Wüste gelegen. Marie hielt noch drei Tage durch, ohne wieder aufzuwachen.«
    » Und das Mädchen, das bei ihm gewesen war?«
    » Ich habe sie nicht herauskommen sehen.«
    » Aber das Bild? Konntest du sie damit nicht aufspüren? Um herauszufinden, was passiert ist?«
    » Da war kein Bild«, sagte Régine und tupfte ihre Augen ab. » Kein einziges. Nur leere Leinwände. Dabei malte Papa mittlerweile schon seit Monaten, stundenlang, jeden Tag, aber wir haben nie ein Bild zu sehen bekommen. Nicht einmal Lucien hat eines gesehen.«
    Gilles schloss sie in seine kräftigen Arme und hielt sie fest, während sie an seiner Brust schluchzte. » Es ist nicht deine Schuld, chère. Manchmal passieren schlimme Dinge. Du konntest es nicht wissen.«
    » Aber ich wusste es. Ich hätte sie aufhalten können. Ich hätte Lucien aufhalten können, als er das Mädchen zum ersten Mal mit ins Atelier nahm. Es war genau wie bei Papa. Ich habe tatenlos zugesehen. Sie lieben ihre Malerei beide so sehr, dass ich es nicht konnte. Ich konnte einfach nicht.«
    » Und deine Mutter hat nie erfahren, wieso das alles passiert ist.«
    » Nein, es hätte ihr nur noch mehr wehgetan. Sie darf es nie erfahren. Selbst wenn Lucien nie mehr zu sich kommen sollte, darf sie es auf keinen Fall erfahren.« Da brach sie wieder zusammen, und Gilles hielt sie noch fester.
    » Auf keinen Fall?«, sagte Mère Lessard von der Treppe her.
    Gilles fragte sich, wie eine Frau von derart beträchtlichem Umfang so leise sein konnte, selbst auf einer knarrenden Treppe.

14
    Wir sind Maler und daher zu nichts nütze
    A cht Tage lag Lucien bewusstlos da. Als sich die Nachricht von seinem Zustand auf dem Hügel verbreitete, kamen Nachbarn und Freunde in die Bäckerei, um Essen und Hilfe und eine Ablösung für Mère Lessard anzubieten, die ihrem Sohn nicht von der Seite weichen wollte.
    » Wenn er aufwacht«, erklärte die Matriarchin, » gebt ihm erst mal etwas Wasser, dann ruft ihm in Erinnerung, dass seine Mutter ihn vor diesem Mädchen gewarnt hat.«
    Régine schaffte es, die Bäckerei in Schwung zu halten, mit Gilles’ Hilfe, der früh aufstand und den Brotteig auf dem schweren Eichenbrett knetete.
    Zwei Pariser Ärzte wurden gerufen, untersuchten Lucien, fanden keine Ursache für sein Koma und nuschelten beide irgendwas von » Abwarten und Tee trinken« vor sich hin, als sie gingen. Mère Lessard wollte nicht zulassen, dass Lucien ins Hôtel-Dieu gebracht wurde, das alte Hospital neben der Kathedrale von Notre-Dame.
    » Dorthin geht man zum Sterben, aber mein Sohn wird nicht sterben.«
    Gegen Ende der Woche jedoch kamen die Besucher meist, um zu trauern, zündeten Kerzen an und sprachen Gebete. Von Genesung, Hoffnung oder Luciens Zukunft war kaum noch die Rede. Mère Lessard und Régine wechselten sich dabei ab, Luciens trockene Lippen mit einem

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