Verflixtes Blau!
als würde sie sich vor dir verstecken. Vielleicht hat sie eher unfreiwillig beim Plan des Farbenmannes mitgemacht. Vielleicht hat sie dich von Herzen geliebt, und er hat dafür gesorgt, dass sie es vergisst. Vielleicht wurde auch Juliette gegen ihren Willen manipuliert.«
» Vielleicht«, sagte Lautrec gedankenverloren, » aber sie ist zu schön, als dass sie frei von Bosheit wäre.«
Henri schlenderte im Zimmer herum und suchte die Ecken und Winkel ab, verschob diverse Apparate und Instrumente und entschied sich schließlich für ein kleines, zylindrisches Messgefäß. In dieses schenkte er Brandy ein.
» Monsieur«, sagte der Professeur kopfschüttelnd, » das wurde zuletzt für eine ziemlich giftige Substanz verwendet.«
» Mist, blöder«, sagte Lautrec. Er nahm den Schädel eines kleinen Tiers, eines Äffchens, wie es schien, vom Schreibtisch des Professeurs und gab einen Schwung Brandy hinein, dann schlürfte er daran.
» Henri!«, schimpfte Lucien.
» Dürfte ich eine demitasse aus der Küche vorschlagen?«, sagte der Professeur. » Ich bereite mir morgens meinen Kaffee selbst.«
» Auch gut«, sagte Henri, trank den Affenschädel leer, stellte ihn auf den Schreibtisch zurück und hinkte in die Küche.
» Wieso trinkst du nicht einfach aus der Flasche?«, rief Lucien ihm hinterher.
Henri blickte um die Ecke. » Ich bitte Euch, Monsieur, bin ich etwa ein Barbar?«
Als sie alle wieder im Wohnzimmer saßen, Henri mit seinem Brandy, der Professeur mit seiner Uhr, Lucien mit seiner dunklen Vorahnung, ging die ganze Chose wieder von vorn los. Diesmal drehte der Professeur die Uhr langsam an ihrer Kette, während er Lucien seine entspannende, konzentrierende, einschläfernde Litanei vorbetete.
» Deine Augenlider werden schwer, Lucien. Du darfst sie schließen, wenn du möchtest. Wenn du es tust, fällst du in tiefen Schlaf. Du wirst mich immer noch hören und mir antworten können, aber du wirst schlafen.«
Lucien schloss die Augen, und sein Kopf sank auf die Brust.
» Du bist hier in Sicherheit«, sagte der Professeur. » Dir kann nichts passieren.«
» Falls du das dringende Bedürfnis verspüren solltest, nach Würmern zu scharren, könnten wir das verstehen«, sagte Henri.
Der Professeur hieß den Maler schweigen, hielt einen Finger an die Lippen und flüsterte: » Bitte, Monsieur, ich will ihn nicht dazu bewegen, sich wie ein Huhn aufzuführen.« Zu Lucien sagte er: » Wie geht es dir, Lucien?«
» Ich bin hier in Sicherheit. Mir kann nichts passieren.«
» Recht so. Jetzt möchte ich, dass du zurückgehst, zurückreist, rückwärts durch die Zeit. Stell dir vor, du steigst eine Treppe hinab, und bei jedem Schritt gehst du ein Jahr zurück. Du siehst deine Vergangenheit an dir vorüberziehen und erinnerst dich der schönen Momente, gehst aber immer weiter, bis du zum ersten Mal dem Farbenmann begegnest.«
» Ich sehe ihn«, sagte Lucien. » Ich bin mit Juliette zusammen. Wir trinken Wein im Lapin Agile. Ich sehe ihn draußen vor dem Fenster. Er steht mit seinem Esel auf der anderen Straßenseite.«
» Wie weit bist du zurückgereist?«
» Drei Jahre etwa. Ja, drei Jahre. Juliette ist bezaubernd.«
» Natürlich ist sie das«, sagte der Professeur. » Aber jetzt musst du deine Reise fortsetzen, die Treppe hinab, bis du den Farbenmann wiedersiehst. Abwärts, abwärts, rückwärts durch die Zeit.«
» Ich sehe ihn!«
» Und wie weit bist du gegangen?«
» Ich bin vielleicht vierzehn Jahre alt.«
» Erregen dich die Nonnen in der Schule insgeheim?«, fragte Henri.
» Nein, da sind keine Nonnen«, sagte Lucien.
» Vielleicht ging es nur mir so«, sagte Henri.
» Nein, es ging nicht nur Ihnen so«, sagte der Professeur ohne nähere Erklärung. » Sprich weiter, Lucien. Was siehst du?«
» Es ist früh am Morgen, und es regnet. Ich war draußen im Regen, aber jetzt stehe ich unter einem Dach. Einem sehr hohen Glasdach.«
» Und wo ist dieses Dach?«
» Es ist ein Bahnhof. Es ist der Gare Saint-Lazare. Ich trage drei Staffeleien und einen Farbkasten für Monsieur Monet. Er steht noch immer draußen im Regen und unterhält sich mit dem Farbenmann. Der Farbenmann kann seinen Esel nicht dazu bewegen, unter das Vordach des Bahnhofs zu kommen. Monsieur Monet sagt, er hat kein Geld für Farben. Er sagt, er will das Wüten von Rauch und Dampf einfangen. Der Farbenmann reicht ihm eine Tube Ultramarin. Er sagt, nur damit geht es, und Monet kann ihn später bezahlen. Ich verstehe nicht, was der
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