Verflixtes Blau!
befestigt, die verhinderten, dass die Bilder sich beim Transport berührten. Es würde eine Woche dauern, vielleicht zwei, bis man sie berühren konnte, und Monate, bis sie trocken genug waren, um den Firnis auftragen zu können.
In der Kiste steckten bereits drei fertige Gemälde. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen. Lucien zog die oberste Leinwand auf ihren Schienen heraus. Es war ein Bild vom Bahnhof. Terpentingeruch stieg davon auf. Er berührte die Farbe am Rand, der vom Rahmen verdeckt sein würde. Frische, feuchte Farbe. Irgendwie hatte Monet in dreißig Minuten sechs Bilder gemalt.Als Lucien sämtliche Leinwände verstaut, die Staffeleien zusammengeklappt und die Pinsel des Meisters einer vorläufigen Reinigung mit Terpentin und Leinöl unterzogen hatte, ragte Monet grinsend über ihm auf.
» Ihr habt es geschafft«, sagte Lucien. » Ihr habt es tatsächlich geschafft.«
» Ja«, sagte Monet.
» Wie habt Ihr es geschafft?«, fragte Lucien.
Der Maler ignorierte Luciens Frage und hob stattdessen die Kiste mit den fertigen Bildern an. » Wollen wir gehen? Renoir dürfte gerade mit dem Frühstück fertig sein. Ich denke, wir sollten ihm zeigen, wozu ein Verrückter in der Lage ist.«
Er führte Lucien aus dem Bahnhof auf den Boulevard hinaus und blieb nur kurz stehen, um seinen Hut gegen den Regen ins Gesicht zu ziehen.
Der Professeur holte Lucien aus seiner Trance. » Drei, zwei, eins, und nun bist du wach.«
» Deine Erinnerung muss dich täuschen«, sagte Henri.
Lucien sah sich im schmuddeligen Wohnzimmer des Professeurs um und blinzelte, als käme er eben aus dem grellen Sonnenschein ins Haus. » Ich glaube kaum«, sagte er.
» Ich habe eines von Monets Saint-Lazare-Bildern gesehen«, sagte Lautrec. » Nicht einmal der große Monet könnte in einer halben Stunde ein solches Werk erschaffen, geschweige denn sechs. Irgendwie erinnerst du dich nicht recht.«
» Die Frage ist«, sagte Lucien, » wieso ich mich ausgerechnet daran erinnere. Zwar war der Farbenmann da und auch Margot, aber der Professeur bat um eine Erinnerung an den Farbenmann, nicht an Monet, wie er den Bahnhof malt.«
» Vielleicht hat dein Gehirn die Details hinzugefügt«, sagte der Professeur. » Unsere Erinnerungen folgen manchmal einer erzählerischen Logik und konstruieren Details, um überzeugender zu erscheinen, wie zum Beispiel durch eine Komprimierung des Zeitverlaufs.«
» Aber ich habe es mir nicht ausgedacht. Bis eben konnte ich mich nicht daran erinnern. Irgendetwas Merkwürdiges ist mit der Zeit passiert, und es hat mit der Farbe zu tun. Mit demselben Blau, mit dem Sie die Uhr bemalt haben, hat Monet die Leinwände vorgemalt. Nicht meine Erinnerung weist Lücken auf, sondern die Wirklichkeit.«
» Woher weißt du das?«, fragte Henri.
Lucien leerte die demitasse mit dem Brandy, den Henri ihm eingeschenkt hatte, und stellte sie auf den Tisch. » Das weiß ich, weil es draußen nicht regnet.«
» Ich verstehe nicht«, sagte der Professeur.
» Werfen Sie mal einen Blick auf Ihre Schultern. Fassen Sie sich an den Kopf. Sie waren im Regen. Genau wie ich.«
Sie waren nicht gerade klatschnass, sahen aber aus, als wären sie durch den Regen gelaufen, um eine Droschke zu bekommen. Henri warf einen Blick auf seine Schuhe, auf denen noch immer Wassertropfen perlten.
» Es hat in Paris seit einer Woche nicht geregnet«, sagte Henri.
» Und es ist sogar noch sehr viel länger her, dass es in meinem Wohnzimmer geregnet hat«, sagte der Professeur.
» Sechs Bilder in einer halben Stunde«, sagte Lucien.
» Ja, aber was sagt uns das? Was hat das zu bedeuten?«, fragte der Professeur.
» Es bedeutet, dass Lucien keine Vernunft annimmt und sich nicht wie ein echtes Huhn benehmen will wie alle anderen auch«, sagte Henri.
» Es bedeutet, dass ich Monet besuchen werde«, sagte Lucien. » Ich nehme morgen früh den ersten Zug nach Giverny.«
» Ich kann nicht mitkommen«, sagte Henri. » Ich muss nach Brüssel. Octave Maus zeigt meine Bilder bei einer Ausstellung der Zwanzig. Ich muss dabei sein.«
» Es gibt einen Maler namens Octave Maus?«, fragte der Professeur.
» Er ist Anwalt«, sagte Henri.
» Na, das passt schon eher«, sagte der Professeur.
» Nein, tut es nicht«, sagte Lucien. » Octave Maus ist trotzdem ein absurder Name, selbst für einen Anwalt. Wischen Sie das Blau von Ihrer Uhr, Professeur. Es trübt Ihr Urteilsvermögen.«
Kurz vor Sonnenaufgang stand der Farbenmann mit Etienne am Gleis
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