Verflixtes Wolfsgeheul (Verflixte Bücher) (German Edition)
schon ist er verschwunden.
Ich schlucke, als ich die Gesichter rings um mich herum sehe. Sie sind betroffen, fast schon entsetzt. Für eine Weile sagt niemand etwas. Dann sieht mich Benar ziemlich ernst an.
„Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl.“ Seine Stimme ist heiser. „Ich an deiner Stelle würde ihn auch befolgen. So spricht er normalerweise nie …“
Kapitel 4
oder
Wie ich etwas von den Fliegen um den Pferdeapfel kennenlerne
Ich hocke seit dem Abendmahl allein in meinem Zimmer und schmolle vor mich hin. Gegessen habe ich fast nichts, nur getrunken, um meinen Kummer in Apfellimonade zu ersäufen. Müde bin ich auch nicht und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich über die Bücher zu beugen, die mir jemand ins Zimmer gebracht hat.
Aber ich kann mich nicht konzentrieren. Dauernd denke ich an die Ratsversammlung im Morgengrauen. Wieso will Mali’tora, dass ich dabei bin? Auf Labaido durfte ich noch nie an einer Sitzung meines Vaters teilnehmen – ich wäre auch gar nicht darauf gekommen, ihn darum zu bitten. Ich bin noch ein Kind und Kinder haben dabei nichts verloren.
Schon ärgere ich mich über mich selbst. Spätestens als mir meine Mutter den Trigonischen Kristall in die Hand gedrückt hat, bin ich erwachsen geworden. Auch wenn ich äußerlich nicht danach aussehe, wichtig ist, wie man sich fühlt. Und ich fühle mich im Moment elend. Was erwartet Mali’tora von mir? Dass ich seine Ratsversammlung anhöre und ihn dann auf Knien um Verzeihung bitte, weil ich mich in ihm getäuscht habe?
So schnell will ich mich nicht beugen. Alles kann getürkt sein, Papiere können gefälscht und Informationen vorenthalten worden sein. Selbst den Artikeln in den Zeitungen, die ich gerade vor mir liegen habe, traue ich nicht. Ich lese etwas über meinen Vater, doch nichts davon hat einen Aussagewert, alles könnte falsch sein. Entweder kann niemand etwas sagen – oder darf es nicht.
Die Sorge um meine Eltern und Freunde wächst. Immer wieder wird von dem totalen Chaos auf den Sieben-Welten berichtet. Was ist auf Labaido nur los?
Um mich von der Angst, die langsam, aber stetig in mir aufsteigt, abzulenken, vertiefe ich mich in die Geschichte Lisan-lihés. Die Texte lenken mich ab, ziehen mich sogar so in ihren Bann, dass ich darüber die Zeit vergesse.
Gerade als ich schläfrig werde, klopft jemand an die Tür. Ein Mädchen von etwa sechs Jahren steckt ihren Kopf durch den Spalt.
„Es ist halb sechs. Tora lässt dir ausrichten, dass du dich fertig machen sollst!“
Dann verschwindet sie wieder. Mein Herz klopft plötzlich so wild, dass mir die Beine nicht gehorchen wollen, als ich aufstehe. Und – verflixtes Wolfsgeheul – ich bin so schrecklich müde!
Schnell schütte ich mir eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht und reibe mir die Augen. Es reicht gerade dazu, um bis zur Tür zu kommen, da fallen die Lider schon wieder herab. Vielleicht sollte ich gleich hierbleiben? Woher soll ich wissen, wo diese Ratssitzung stattfindet?
„Ich bring dich hin!“, sagt das Mädchen, als ich zögernd den Kopf in den Flur stecke. Mari’jeh heißt sie, wird knapp Mari genannt. Sie läuft mit ihren plüschrosa Pantoffeln vor mir her und wartet kichernd an jeder Ecke, bis ich sie erreiche.
Wie kann jemand so früh morgens nur so ausgeschlafen sein?
Missmutig schlurfe ich durch die kalten Flure. Bei meiner Ankunft habe ich es nicht bemerkt, aber nun fallen mir die Lichtfelder auf, die bei unserem Herannahen aufleuchten. Ein gleichmäßiges warmes Licht strahlt über den Flur, es ist genug, um alles zu erkennen, aber zu wenig, um die Umgebung warm zu bekommen.
Vor einer Tür lässt mich das Mädchen einfach stehen. Ich schaue auf meine Armbanduhr, stelle jedoch fest, dass sie hier nicht funktioniert. Drei Uhr am Nachmittag! Ich wünsche, das wäre es wirklich, dann hätte ich alles schon hinter mir, was immer es auch sein mag.
„Guten Morgen, Nadine!“
Die leise, krächzende Stimme hinter mir gehört Großvater, der herangetapst kommt. Ich biete ihm meinen Arm an, den er dankbar annimmt.
„Ich glaube, wir beide dürfen heute Zuschauer sein. Mal sehen, was es für Debatten gibt.“
Er steuert auf die Tür zu, die ich für ihn öffne.
Als wir eintreten, sehe ich Mali’tora an einem großen, ovalen Tisch sitzen, gebeugt über einen Stapel Papiere. Es scheint, als hocke er schon seit Stunden dort.
Die Männer begrüßen sich kurz und ich murmele nur: „M’gen!“
Mali’tora sieht kurz zu mir auf.
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