Verflucht himmlisch
glitzerte es verräterisch. Trotzdem konnte ich nicht die geringste Regung in seinem Gesicht erkennen. Mit gesenkten Wimpern, zwischen denen es blau und grün schimmerte, glitt er zu Boden, um mir zu folgen.
Merkwürdigerweise ließ er mich den Rest des fürchterlich öden Schultages fast vollkommen in Ruhe. Während der Unterrichtsstunden kauerte er im Schneidersitz vor meinen Füßen und rührte sich nicht, als habe ein Zauber ihn versteinert. Nach der ersten Pause (in der ich Guiseppe immer noch nicht zu Gesicht bekommen und meine Zeit mit Billy bei den Breakdancern in der Ecke neben der Turnhalle verbracht hatte) bekam ich ein schlechtes Gewissen, ihm am Morgen nur meine Brotkanten überlassen zu haben, und ließ ein Stück Apfel unter den Tisch fallen, doch Leander griff nicht danach. Vielleicht brauchte er ja ebenso wenig Essen wie Schlaf, wobei ich der Meinung war, dass er bei seinem Schlafgeplapper maßlos übertrieben hatte.
Im Französischunterricht fiel es mir wie immer ungeheuer schwer, dem überdrehten Geschnatter meiner Lehrerin zu folgen. Sie sprach grundsätzlich nur Französisch mit uns – also auch auf den Schulausflügen oder wenn sie in der Cafeteria ein belegtes Brötchen kaufte. Und sie sprach in Rekordgeschwindigkeit. Leander war eine lahme Ente im Vergleich zu Frau Dangel. Ich bereute es zum hundertsten Mal, dass ich Französisch und nicht Latein gewählt hatte, doch nun war es zu spät. Ich hatte geglaubt, es sei cool, die Sprache aus dem Mutterland der Traceure zu lernen, aber wenn Frau Dangel französisch redete, hörte es sich scheußlich an. Außerdem versprühte sie dabei unablässig Speicheltropfen. Ein Grund mehr, nicht in der ersten Reihe zu sitzen, dachte ich und schaute gelangweilt auf die Hinterköpfe meiner Klassenkameraden.
Auf einmal schoss mir eine Idee durch den Kopf – wenn ich Leander richtig verstanden hatte, bekam jeder Mensch seinen eigenen Wächter zugeordnet. Also hatten auch meine Mitschüler einen Körperwächter. Jeder einzelne! Lena und Sofie und Felix und … Unruhig richtete ich mich auf. Sie mussten hier sein, hinter und vor und neben mir. Doch alles wirkte normal. Die Luft war miefig wie jeden Tag, aber absolut durchsichtig und frei von transparenten Gestalten. Es lag kein blaues Flimmern über den Bänken und es war kein gläsernes Flüstern zu hören wie in dem Moment, als ich Leander das erste Mal wahrgenommen hatte.
In Zeitlupe riss ich eine Seite aus meinem Schulheft, faltete sie und trennte Millimeter für Millimeter ein kleines Viereck ab. Darauf schrieb ich – im Vertrauen, dass ein so gebildeter Schutzengel, wie Leander es vorgab zu sein, lesen konnte – in winzigen Buchstaben: »Sind die anderen hier? Ich sehe keinen! Kann ich nur dich sehen?«
Ich gab meinem Kugelschreiber einen Stoß mit dem Ellenbogen, damit er über die Kante segelte, sendete Frau Dangel einen entschuldigenden Blick, kroch unter den Tisch, um den Kuli aufzuheben, und schob unauffällig den Zettel neben Leanders Knie. Er zuckte nicht einmal und er nahm den Zettel auch nicht an sich.
Minutenlang fixierte ich seinen Hinterkopf, doch Leander regte sich nicht. Kein Nicken, kein Kopfschütteln, kein gar nichts. Genervt ließ ich ein zweites Mal den Kuli fallen, schob mich erneut unter den Tisch, nahm den Zettel wieder weg (wenn ihn jemand fand, war mein Ruf ruiniert) und verbrachte den Rest der Stunde damit, von David Belle und Seppo zu träumen und den beklemmenden Gedanken zu verdrängen, dass ich umgeben von lauter unsichtbaren Körperwächtern war, die ebenso arrogant und selbstverliebt waren wie Leander.
In der zweiten Pause versuchte ich vergeblich, mich mit Sofie zu unterhalten. Wir hatten seit ihrem Besuch im Krankenhaus nicht mehr miteinander gesprochen. Sofie war das einzige Mädchen in der Klasse, mit dem ich mich ab und zu gerne unterhielt. Denn sie tuschelte nicht über mich, weil ich in der Pause mit den Jungs zusammen war und mich nachmittags mit ihnen im Park traf. Aber immer wenn ich mich ihr nähern wollte, blockierte Leander mir den Weg. So ganz unrecht war mir das nicht, denn Sofie steckte nach wie vor mitten in ihrem Hannah-Montana-Wahn und gab nicht auf, mich überreden zu wollen, mit ihr eine Hannah-Montana-Nacht zu feiern, in der wir eine Folge nach der anderen sehen würden. Aber so gern ich Sofie mochte: lieber drei Wochen mit Leander als eine einzige Hannah-Montana-Nacht. Dennoch fragte ich mich, was Leander mit seinem Verhalten bezwecken wollte.
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