Verflucht sei Dostojewski
Verurteilten, aus dem Weg, aus dem Weg!«
Die Leute drehen sich zu Rassul um, und als sie beiseitetreten, um ihn vorbeizulassen, kommt eine Leiche zum Vorschein, die auf dem Boden liegt. Alles erstarrt: die Zeit, der Atem, die Tränen, die Wörter … Die Beine zittern. Rassul fällt auf die Knie vor dem Körper von Parwaiz, der den Strick um den Hals hat. Die Menge murmelt, gerät in Aufruhr, macht Platz. Weitere bewaffnete Männer tauchen auf und schieben die Leute brutal zur Seite, um den Weg für die Kommandeure frei zu machen, die lärmend anrücken. Alles verliert sich unter ihren Stiefeln. Rassul sieht nichts mehr. Da ist nur die Stimme, nichts als die Stimme, die Stimme von Suphia.
»DU BIST SCHÖN«, FLÜSTERT Rassul Suphia ins Ohr. Sie errötet. Er wirft sich ihr zu Füßen, um ihr endlich zu erklären: »Ich verneige mich vor dir, nicht nur vor deiner unschuldigen Schönheit, sondern auch vor deinem Leid!« Sie ist gerührt. Sie hält sich zurück. Einzig ihre Hand bewegt sich, fährt durch Rassuls Haare und verliert sich darin. »So zarte Dinge hast du mir schon lange nicht mehr gesagt.«
»Ich hatte dir so viel zu sagen, aber der Krieg hat uns nicht die Zeit gelassen.«
Er küsst sie schüchtern auf die Wangen. Sie verbirgt ihr Gesicht, streckt die Hand aus, um die von Rassul zu ergreifen, der sie fragt: »Kommst du mit mir?«
»Wohin?«
»Weit weg.«
»Nach Mazar-e Scharif?«
»Nein, viel weiter … Ins Tal der wiedergefundenen Infans !«
»Wo ist das?«
»Es ist weit weg, sehr weit. Es ist nicht im Osten und nicht im Westen, nicht im Norden und nicht im Süden.«
»Es existiert also gar nicht.«
»Ich werde es für dich bauen.«
»Und wie wird es sein?«
»Ein sehr schönes Tal, in dem niemand spricht. In dem noch niemand die Erfahrung des Bösen gemacht hat.«
»Dann sind wir Infans ?«
»Für immer!« Und sie lachen.
»Ich muss gehen«, sagt sie und steht auf.
»Kehrst du zu Nazigol zurück?«
»Nein, sie ist mit Amer Salem weggegangen.«
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht«, sie nähert sich Rassul: »Ich hoffe, sie kommen nicht auch ins Tal der wiedergefundenen Infans !«
»Nein, es gehört uns allein!«
»Dann bis bald!« Sie streift ihren himmelblauen Tschaderi über und verlässt die Zelle.
Rassul bleibt in Gedanken versunken stehen. »Du hast noch einen Besucher«, sagt der Wärter. Und der frühere Gerichtsschreiber kommt herein, eine dicke Akte unter dem Arm. »Wie geht’s dem jungen Mann?« Rassul nickt, heiter und gelassen.
Der Gerichtsschreiber will sich setzen, aber Rassul hält ihn zurück: »Nicht hier, bitte. Da ist eine Fliege, eine armselige Fliege …« Der Gerichtsschreiber setzt neugierig die Brille auf und sucht den Boden ab. Er tritt einen Schritt zur Seite und setzt sich vorsichtig hin. »Diese Fliege … sie ist mit mir gefangen«, sagt Rassul und zeigt auf das Insekt, das dicht neben dem Gerichtsschreiber hockt.
»Jetzt sorgst du dich schon um das Leben einer Fliege?«
»Letzte Nacht hatte ich einen eigenartigen Traum. Ich träumte von dieser Fliege, sie trällerte ein Lied, das ich kannte, etwas wie › Tat, tat, tat … twam, twam … asi ‹, ja, das ist es, aber ich konnte den Sinn nicht erfassen.«
»Das ist ein indisches Lied.«
»Wahrscheinlich. Was bedeutet es?«
»Auch das bist du!«
»Das ist hübsch!«
»Jetzt singen sogar schon die Fliegen für dich. Das Leben ist schön! Freust du dich nun, dass sich der Prozess abspielt, wie du es dir gewünscht hast?«
»Jetzt ist mir alles egal.«
»Jetzt ist dir alles egal? Du hast die Welt auf den Kopf gestellt, und alles ist dir egal?! Deinetwegen hat sich ein großer Mudschaheddin-Führer erhängt, der Richter wurde gefeuert, die Zeitungen schreiben nur noch über dich, dein Cousin hat all die ausländischen Journalisten und Funktionäre der Vereinten Nationen herbeigerufen … und der Herr, was sagt er dazu?« Der Gerichtsschreiber schüttelt missbilligend den Kopf.
»Nicht ich habe alles auf den Kopf gestellt. Dostojewski war’s!«
»Jetzt geht das wieder los. Bleib mir weg mit deinem Dosto… dingsbums! Du hast nicht getötet, weil du ihn gelesen hast. Du hast ihn gelesen, weil du töten wolltest. So ist es. Würde er leben, würde er dich des Plagiats beschuldigen!«
Rassul schaut ihn lange und durchdringend an.
»Sieh mich nicht so an. Ich habe dir kein Rätsel aufgegeben«, sagt der Gerichtsschreiber und breitet die Akte auf dem Boden aus. »Jedenfalls habe ich meinen
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