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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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werden. Verstehst du mich?« Rassul ist perplex. Der Gerichtsschreiber fährt fort: »Was willst du? Ins Gefängnis? Deine Seele ist in deinem Körper gefangen und dein Körper in dieser Stadt.«
    »Dann ändert es also nichts, ob ich hier bin oder draußen?«
    »Es ändert nichts.«
    »Dann bleibe ich hier.«
    Der Gerichtsschreiber weiß nicht mehr weiter. Er nimmt eine Akte und wirft sie auf den Boden. »Aber hier ist keiner. Ich kann mich nicht um dich kümmern«, schreit er, »es gibt kein Untersuchungsgefängnis mehr, keine Aufseher … nichts. Da ist nichts mehr! Nicht einmal mehr ein Gesetz. Sie sind dabei, das Strafgesetzbuch zu ändern. Alles wird auf dem fiqh , der Scharia, aufgebaut.« Wütend starrt er Rassul an, in einem langen Moment erdrückenden Schweigens. Dann streckt er ihm, bevor er die Akte vor Rassuls Füßen wieder einsammelt, die Hand entgegen: »Erfreut, deine Bekanntschaft gemacht zu haben, junger Mann. Es ist Zeit für mein Gebet. Leb wohl!« Er legt die Akte wieder auf den Schreibtisch und zieht sich in einen anderen Raum zurück.
    Rassul ist sprachlos, ohne Worte, ohne Stimme, stummer denn je.
    Wo bin ich?
    In Nakodscha abad , in der Nirgendstadt!
    Farzan kommt zurück: »Dann bleiben Sie also? Sie haben recht. Hier ist es wirklich gut. Hier ist es sicher … Der Herr Gerichtsschreiber wohnt mit seiner ganzen Familie hier. Seine Frau ist reizend. Sie ist auch sehr schön, und sie kocht sehr gut …«
    »Die, die zurückgekommen ist, kurz bevor ich kam? Die Frau im himmelblauen Tschaderi?«
    »O nein! Sie geht nie aus dem Haus. Sie hat Angst vor den Bomben. Sie hat Angst, allein zu sein. Sie ist ein bisschen …«
    Dann ist es also nicht diese verflixte Frau. Aber warum will dann der Gerichtsschreiber unbedingt, dass ich gehe?
    »Bruder!« Eine tiefe Stimme, gefolgt von tastenden Schritten, hindert Rassul, weitere Mutmaßungen anzustellen. Farzan flüchtet ins Nebenzimmer und gibt Rassul ein Zeichen, ihm zu folgen, doch der rührt sich nicht. Vier bewaffnete Männer tauchen auf.
    »Ist der Gerichtsschreiber nicht da?«
    »Er verrichtet sein Gebet«, antwortet Rassul. »Und du, was machst du hier?«, fragt ihn einer der vier. »Ich heiße Rassul und bin gekommen, um mich der Justiz zu stellen.«
    »Was machst du?«, erkundigt sich der eine. »Arbeitest du hier?«, fragt ein anderer. »Nein, ich bin gekommen, um mich der Justiz zu stellen«, antwortet Rassul erschöpft angesichts der vier Männer, die argwöhnische Blicke wechseln. »Hier wird niemand eingestellt!«
    »Ich bin nicht gekommen, um zu arbeiten. Ich bin gekommen, damit man über mich urteilt.« Einer der Männer mustert ihn, streicht sich über den Bart: »Du willst verurteilt werden? Warum?«
    »Ich habe jemanden umgebracht.«
    Wieder schauen sie einander an. Zweifelnd. Sie wissen nichts mehr zu sagen. Schließlich geht einer von ihnen auf Rassul zu und sagt: »Wir werden das mit dem Qhazi sahib besprechen. Los, komm mit!«
    Als sie das Gebäude verlassen, holt sie der Gerichtsschreiber ein, gefolgt von Farzan: »Suchen Sie mich?«
    »Ja, der Qhazi sahib will wissen, ob die Liste der schahid fertig ist?«
    »Noch nicht!«
    »Dann mach dich wieder an die Arbeit und bring sie so schnell wie möglich!« Doch der Gerichtsschreiber bleibt wie angewurzelt stehen, bestürzt über Rassuls Dummheit.
    In einem halbzerstörten Gebäude betreten sie einen riesigen Raum mit einem ausladenden Schreibtisch, hinter dem der Richter, ohne sie zu beachten, ein großes Stück Wassermelone verspeist. Eine weiße Mütze bedeckt seinen dicken, kahlrasierten Schädel; ein langer Bart zieht sein knochiges Gesicht in die Länge. Sie warten, bis er aufgegessen hat. Nachdem er die Schale auf ein Tablett geworfen hat, holt er ein großes Taschentuch hervor, um sich den Mund, den Bart und die Hände abzuwischen. Nach einem behaglichen Rülpser bedeutet er einem alten Mann, das Tablett zu entfernen, dann nimmt er seine Gebetskette, blickt Rassul an und fragt die Männer: »Wo ist das Problem?«
    »Wir bringen Ihnen einen Mörder.« Der Blick des Qhazi wandert von Rassul zu seinen Männern, ein ausdrucksloser Blick, abgesehen von einem »Und?«, das er nicht ausspricht. Er fragt: »Wo habt ihr ihn verhaftet?«
    »Wir haben ihn nicht verhaftet. Er hat sich selbst gestellt.« Das überrascht den Richter nun doch. Er mustert Rassul von neuem: »Wen hat er getötet?« Keine Antwort. Einer der Männer flüstert Rassul ins Ohr: »Wen hast du getötet?«
    »Eine

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