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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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Geschichte. Sag mir, zu welcher Gruppe du gehörst.«
    »Zu keiner.«
    »Zu keiner!«, wundert sich der Qhazi . Eine solche Haltung in diesem zerrissenen Land ergibt für einen Geist wie ihn natürlich keinen Sinn.
    »Bist du Moslem?«
    »Ich bin als Moslem geboren.«
    »Was macht dein Vater?«
    »Er war Soldat. Er ist umgekommen.«
    »Kommunist war er.« Da haben wir’s, es geht wieder los. Immer und immer wieder dieselben Fragen, derselbe Argwohn, dieselben Urteile. Ich habe die Nase voll davon!
    Du wolltest ihm deine Geschichte erzählen, dein Leben, oder nicht? Dann spiel das Spiel. Bis zu Ende. »Er war Kommunist, dein Vater. He?« Ist das eine Frage oder ein Urteil? »He?«
    »Verzeihung?«
    »Dein Vater, war er Kommunist?«
    »Ach so, das war eine Frage.«
    Der Richter wird wütend: »Und du warst auch Kommunist!«
    » Qhazi sahib , ich bin gekommen, um einen Mord zu gestehen: Ich habe eine Frau getötet. Das ist mein einziges Verbrechen.«
    »Nein. Irgendetwas ist faul an der Sache. Du musst noch etwas Schlimmeres auf dem Kerbholz haben …«
    » Qhazi sahib , gibt es ein schlimmeres Verbrechen, als einen Menschen zu ermorden?«
    Bei dieser Frage fällt dem Richter das Taschentuch aus der Hand. »Hier stelle ich die Fragen! Was hast du gemacht zur Zeit der Kommunisten?«
    »Ich habe in der Bibliothek von Pohantun gearbeitet.«
    »Du hast also deinen Militärdienst unter der sowjetischen Fahne geleistet«, der Richter nimmt seine Gebetskette, »sag mir, wie viele Moslems hast du getötet?« Ein Glück, dass er nicht weiß, dass du in der Sowjetunion warst, sonst wäre alles aus.
    »Ich habe keinen Militärdienst geleistet.«
    »Dann warst du bei der kommunistischen Jugend?«
    »Nein, nie!«
    »Du warst kein Kommunist, du hast keinen Militärdienst geleistet, und du bist noch immer am Leben.« Schweigen vonseiten Rassuls. Einzig das Klicken der Perlen zwischen den Fingern des Qhazi ist zu hören. Und plötzlich regt er sich erneut auf: »Du lügst! Verdammter gottloser Kommunist!« Die Perlen der Gebetskette geraten ins Stocken, seine Stimme ruft, wutentbrannt, nach den Wächtern: »Entfernt mir dieses Schwein! Sperrt ihn in eine Einzelzelle! Morgen schwärzt ihr ihm das Gesicht, bevor ihr ihn öffentlich bestraft: Ihr schlagt ihm wegen Diebstahls die rechte Hand ab, dann hängt ihr ihn! Ihr peitscht die dreckige Leiche aus, als Lektion für alle: Das ist die Strafe, die vorgesehen ist für die Überlebenden des alten Regimes, die Unheil und Verderben verbreiten!«
    Die beiden bewaffneten Männer stürzen sich auf Rassul, um ihn zu ergreifen. Er ist wie vom Blitz getroffen.
    Der Atem setzt aus.
    Der Magen dreht sich um.
    Der Saal stürzt ein.
    Die Perlen der Gebetskette beginnen wieder zu gleiten, eine nach der anderen.
    Wutgeheul dröhnt durch den Saal.
    Kettengerassel betäubt die Ohren.

WOHER KOMMT DIESES KETTENGERASSEL?
    Von deinen Füßen, von deinen Händen.
    Er bewegt sich. Sie sind schwer, seine Füße und seine Hände. Schwer sind auch seine Lider, die er öffnet.
    Alles ist dunkel. Er liegt auf einer Matte, in einem winzigen Raum. Nach und nach entdeckt er den Himmel, fern, blasslila, hinter einem kleinen, vergitterten Fenster oben an der Wand. Er richtet sich auf. Das Kettengeräusch hallt durch den Raum, durch die Tür hinaus in den verlassenen Flur. Rassul nähert sich der Tür, versucht sie mit seinen aneinandergeketteten Händen zu öffnen. Sie hat keinen Griff, er drückt, sie geht nicht auf. Er klopft. Er schreit. Keine Antwort. Nichts als die Ketten in der Stille der Nacht. Er gibt auf, vernichtet. Ist es schon vorbei?
    Hier?
    Er kauert nieder. Betastet die Kette um seine Knöchel.
    Kaum dass ich meine Stimme wiedergefunden habe.
    Schon bin ich verurteilt.
    Schon sterbe ich.
    Sterben, ohne ein Wort zu sagen, das letzte Wort?
    Er steckt seinen Kopf zwischen die Knie.
    Er weint nicht.
    Plötzlich hört er eine Tür, die mit einem lauten Krachen aufgeht, Schritte, die durch den Flur schlurfen. Er springt auf, drückt das Ohr an die Tür. Die Schritte kommen näher, bleiben stehen. Ein Schlüsselbund klimpert, die Tür öffnet sich. Das grelle Licht einer Taschenlampe sucht das Halbdunkel ab, blendet Rassul. Ein junger Bärtiger richtet seine Waffe auf ihn und gibt jemandem im Flur ein Zeichen hereinzukommen. Der Kopf des Gerichtsschreibers erscheint. Er tritt näher, ein Tablett in der einen und eine schummerige Laterne in der anderen Hand. Rassul stürzt ihm entgegen. »Keine Bewegung!«,

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