Verflucht sei Dostojewski
hast … die Dinge, die dir erlaubt hätten, deiner Familie zu helfen. Dann ist dir aufgegangen, dass deine Gewissensbisse, deine Qualen noch größer wären, wenn du das Geld und den Schmuck der nana … wie? … ja, nana Alia genommen hättest … Danach hast du festgestellt, dass Geld und Schmuck nur ein Vorwand waren. Im Grunde hast du diese Kupplerin getötet, um die Erde von einer Kakerlake zu befreien, aber vor allem, um deine Verlobte zu rächen … Nun merkst du, dass sich damit nichts ändert. Der Mord hat deine Rachegelüste nicht befriedigt. Er hat dir keinen Trost gebracht. Im Gegenteil, er hat einen Abgrund aufgetan, in dem du Tag für Tag tiefer versinkst … Was dich also heute quält, ist nicht das Scheitern deiner Tat und nicht das schlechte Gewissen; du leidest eher unter der Nichtigkeit deines Aktes. Hab ich recht?«
»Ja, so ist es, ich bin Opfer meines eigenen Verbrechens. Und das Schlimmste an der ganzen Geschichte ist, dass mein Verbrechen nicht nur banal und unnütz ist, sondern dass es nicht einmal existiert. Niemand spricht darüber. Die Leiche ist auf mysteriösem Weg verschwunden. Alle glauben, nana Alia sei in die Provinz gereist und habe ihren Schmuck und ihr Vermögen mitgenommen. Ist Ihnen in Ihrem juristischen Archiv schon einmal ein solch absurder Fall untergekommen?«
»O ja, junger Mann, ich habe schon weit absurdere Verbrechen gesehen als das deine. Und ich habe auch festgestellt, dass das Böse nicht aus der Welt zu schaffen ist, indem man eine Kupplerin umbringt. Schon gar nicht heutzutage. Wie du eben gesagt hast, gibt es in diesem Land kaum einen unbedeutenderen Akt, als zu töten.«
»Das ist der Grund, warum ich hergekommen bin, warum ich mich der Justiz stellen will. Ich will meinem Verbrechen einen Sinn geben.«
»Hast du denn deinem Leben schon einen Sinn gegeben, um deinem Verbrechen einen geben zu können?«
»Ich dachte gerade, mit dem Mord würde ich das tun.«
»Wie all diese Leute, die im Namen Allahs töten, um ihre Sünden vergessen zu machen! Das alles dient nur als Ersatz, junger Mann, als Ersatz! Verstehst du?«
»Ja«, sagt Rassul und nickt; dann fragt er den Gerichtsschreiber: »Kennen Sie Dostojewski?«
»Nein. Ist das ein Russe?«
»Ja, ein russischer Schriftsteller, aber kein Kommunist. Das spielt aber auch keine Rolle. Er sagte, wenn Gott nicht existieren würde …«
» Tobah na’uzubillah! Gott bewahre dich vor dieser Verirrung! Verjag diesen satanischen Gedanken!«
»Ja, Allah möge mir verzeihen! Dieser Russe sagte, dass der Mensch – tobah na’uzubillah –, wenn Gott nicht existieren würde …, zu allem fähig wäre.«
Nach einem Moment nachdenklichen Schweigens sagt der Gerichtsschreiber: »Da ist was dran!«, und flüstert Rassul ins Ohr: »Und wie würde dein geneigter Russe erklären, dass heute in deinem schönen Land, wo alle an Allah, den Barmherzigen, glauben, sämtliche Gräueltaten erlaubt sind?«
»Wollen Sie damit sagen, dass diese Leute …«, mischt sich Farzan in die Diskussion ein, die nicht für seine Ohren bestimmt ist. »Und du, Kleiner, hol Wasser!«, befiehlt ihm der Gerichtsschreiber, um ihn loszuwerden, und fährt fort: »Du weißt, dass es heißt, die Sünde existiert, weil Gott existiert.«
»Ja, aber heute habe ich das Gefühl, als wäre es eher umgekehrt. Allah möge mir vergeben! Wenn Er existiert, dann nicht, um die Sünden zu verhindern, sondern um sie zu rechtfertigen.«
»Nun ja, leider. Immer bemühen wir Ihn oder die Geschichte oder das Gewissen oder die Ideologien, um unsere Verbrechen und unseren Verrat zu rechtfertigen … Es gibt nicht viele wie dich, die Gewissensbisse bekommen, wenn sie ein Verbrechen begangen haben.«
»Nein, nein! Ich habe überhaupt keine Gewissensbisse.«
»Keine Gewissensbisse, gut. Aber du bist dir deines Verbrechens bewusst. Schau dich um: Wer tötet nicht? Wie viele Verbrecher haben deinen Bewusstseinsgrad erreicht? Keiner.«
»Eben mein Bewusstsein ist es, das mich schuldig macht.«
»Wozu braucht es dann einen Prozess, ein Urteil? Das alles ist, im Idealfall, für diejenigen gedacht, die ihr Verbrechen, ihre Schuld, nicht eingestehen. Außerdem, wer sollte dich heute verurteilen? Hier ist niemand, weder Richter noch Staatsanwalt. Alle sind im Krieg. Alle laufen hinter der Macht her. Sie haben weder die Zeit noch die Absicht, sich um einen Prozess zu kümmern. Sie haben sogar Angst vor Prozessen. Der Prozess der einen kann zum Prozess der anderen
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