Verflucht sei Dostojewski
Frau.«
Wieder so eine Familienangelegenheit. Also völlig uninteressant. Der Richter versucht, mit der Zungenspitze einen Melonenkern zu entfernen, der sich zwischen seinen Zähnen festgesetzt hat. Der Versuch scheitert. In gleichgültigem Tonfall fährt er fort: »Und aus welchem Grund?« Wieder Stille. Wieder gibt der Wächter die Frage an Rassul weiter; der zuckt die Schultern, um zu sagen, dass er es nicht weiß. »War sie seine Frau?«
»War sie deine Frau?«
»Nein«, antwortet Rassul, dieser indirekten Fragen, dieser verächtlichen Blicke überdrüssig. Der Richter macht eine Pause, nicht um nachzudenken, sondern um sich um den Kern, diesen vermaledeiten Melonenkern, zu kümmern. Neuer Versuch, mit dem Zeigefinger diesmal. Er gibt auf. »Wer war es dann?«
»Eine Frau namens nana Alia, aus Dehafghanan«, antwortet Rassul, bevor der Wächter die Frage wiederholt.
»Um sie zu bestehlen?«
»Nein.«
»Zu vergewaltigen?«
»Auch nicht.«
Erneuter Abbruch der Vernehmung, erneute Attacke auf den Melonenkern. Der Richter stopft Zeigefinger und Daumen in den Mund. Das wird nicht klappen, so viel steht fest. Rassul würde ihm gerne behilflich sein. Sein Zeigefinger ist dünn, knochig, mit einem kräftigen Nagel. Er beherrscht die Technik ausgezeichnet: Man muss mit der Fingerspitze am Kern schieben und ihn gleichzeitig ansaugen.
»Wo sind die Zeugen?«
»Es gibt keine Zeugen.«
Zunehmend aufgebracht wegen des verfluchten Melonenkerns, reißt der Richter nervös eine Ecke von einem Blatt Papier aus einer Akte ab. Er faltet sie, schiebt sie zwischen die Zähne. Vergeblich. Das Papier wird feucht und weicht auf. Er gerät in Rage: »Hat jemand ein Streichholz?«, und wirft den Papierfetzen auf den Schreibtisch. Rassul eilt herbei, um ihm seine Streichholzschachtel zu geben. Der Qhazi nimmt ein Hölzchen heraus, knipst den Schwefel ab, spitzt es mit den Nägeln an und macht sich wieder an dem verteufelten Kern zu schaffen. Na endlich. Erleichtert betrachtet er dieses so lästige Nichts und befiehlt den Wächtern: »Lasst ihn laufen! Ich habe keine Zeit, mich um solche Fälle zu kümmern.«
»Komm!« Einer der Wächter packt Rassul am Arm. Aber der bleibt wie angewurzelt vor dem Schreibtisch des Qhazi stehen. Er wird sich nicht rühren, nein! Er wird sich auf den Richter stürzen, ihn beim Bart packen und schreien: »Sieh dich selbst in mir! Ich bin ein Mörder, wie du! Warum leidest du nicht darunter?« Er will einen Schritt nach vorne machen, aber der Griff des Wächters hindert ihn daran. » Qhazi sahib , Sie müssen über mich richten«, bittet er inständig. Der Richter denkt einen Augenblick nach, reibt sich die Stirn, dann sagt er, indem er die Wörter im selben Rhythmus ausstößt, wie die Perlen seiner Gebetskette zwischen seinen Fingern hindurchgleiten: »Dein Fall ist eine Angelegenheit der qisas . Finde die Familie der Frau und entrichte das Blutgeld. Das war’s. Und jetzt verlass mein Büro.«
Das war’s?
Ja, Rassul, das war’s. Du wusstest es, der Gerichtsschreiber hat dich gewarnt.
» JA, DU HAST MICH gewarnt«, stimmt Rassul zu; er sitzt vor dem Schreibtisch des Gerichtsschreibers, während der die Namen der in den kommunistischen Gefängnissen hingerichteten schahid aus einer Akte abschreibt. »Aber ich dachte, ich könnte ihn überzeugen, meinen Prozess in die Wege zu leiten … und in der Folge die der anderen, die sämtlicher Kriegsverbrecher.« Der Gerichtsschreiber hebt den Kopf und wirft Rassul einen ironischen Blick zu: »Wo glaubst du denn, wo du bist?«
»Jetzt nirgendwo mehr.«
»Willkommen!«, gratuliert ihm der Gerichtsschreiber und vertieft sich wieder in seine Arbeit.
»Und das belastet mich auch. Diese Unfähigkeit, mich verständlich zu machen und die Welt zu verstehen.«
»Verstehst du denn dich selbst?«
»Nein, ich komme mir verloren vor.« Einige Zeit verstreicht, lange genug, um weit in eine Wüstennacht hinauszugehen, zurückzukehren und zu sagen: »Ich habe den Eindruck, dass ich mich in einer Wüstennacht verirrt habe, wo es nur einen einzigen Anhaltspunkt gibt: einen toten Baum. Wohin ich auch gehe, ich sehe mich ständig an denselben Ort zurückkehren, unter diesen Baum. Ich bin es müde, immer und immer wieder denselben erbärmlichen Weg zurückzulegen.«
»Junger Mann, ich hatte einen Bruder. Er stand auf der Bühne des Kabul-Nendaray-Theaters. Er war immer fröhlich, lebenslustig. Er hat mir etwas Wichtiges beigebracht: das Leben zu nehmen wie ein
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