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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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kein Rätsel gestellt, soviel ich weiß!« Eine Pause, als warte er auf Rassuls Zustimmung, dann fragt er: »Ist es dringend?«, aber mit so einschüchterndem Ton, dass Rassul zögert, bevor er grummelt: »Ja.«
    »Lassen Sie mich erst diese Angelegenheit erledigen, danach kümmere ich mich um die Ihre«, sagt der Alte; dann herrscht er den Jungen an: »Nun, kannst du lesen oder nicht?«
    »Ja, ich kann lesen, aber Ihr Finger …«
    »Was ist mit meinem Finger?«
    »Er liegt drauf.«
    »Ich habe dir gesagt, du sollst den Namen über meinem Finger lesen, Dummkopf!« Der Junge senkt den Kopf und stottert: »You…, Yous…, Youssef Ka…, Kabuli, ja, das ist er, glaube ich.«
    »Glaubst du?! Seit einer Woche liegst du mir in den Ohren mit diesem Namen, und jetzt hast du Zweifel! Das ist schlimm, mein Kleiner, sehr schlimm.«
    »Ich hab nicht gesagt, dass ich Zweifel hab. Ich hab gesagt, dass ich glaube.«
    »Was faselst du da? Gut. Also, wie lautet die Nummer der Akte?«
    »Die Nummer der Akte?«
    »Ja, die Zahlen!«
    »Die Zahlen? … Da sind keine Zahlen. Sehen Sie selbst!«
    »Was soll das heißen, keine Zahlen? Heb die Lampe!« Der Junge hält die Lampe höher; der Alte, erschöpft, beginnt sich aufzuregen: »Wie soll ich dann diese verfluchte Akte finden?« Er inspiziert den Stapel Papiere. Rassul sagt aufgebracht: »Bevor Sie mit Ihrer Suche wieder von vorne anfangen, könnten Sie mir vielleicht sagen, ob der Staatsanwalt …«
    »Jetzt hören Sie mal zu, junger Mann, die Angelegenheit dieses Jungen ist wichtiger als die Anwesenheit oder Abwesenheit des Herrn Staatsanwalts! Das Schicksal einer Familie steht auf dem Spiel. Seit einer Woche rackere ich mich ab, um an diese Akte zu kommen; und jetzt soll ich alles stehen- und liegenlassen, um den Herrn Staatsanwalt zu suchen! Erstens gibt es keinen Staatsanwalt mehr. Zweitens sind Sie hier nicht am Empfang. Wir befinden uns im Büro des Justizarchivs. Und ich bin nichts als ein bescheidener Gerichtsschreiber, der sich nun mehr recht als schlecht um diese Einrichtung kümmert!« Er hält einen Moment inne, dann beugt er seinen Kopf wieder über die Namensliste und stammelt: »Was wollen Sie denn von ihm, dem Herrn Staatsanwalt?«
    »Ich bin gekommen, um mich der Justiz zu stellen.«
    »Ach so, tut mir leid, da ist niemand, der Sie empfangen kann.«
    Erstaunt, aber auch verärgert, tritt Rassul näher und versucht mit seiner gebrochenen Stimme gelassen zu klingen: »Ich bin nicht gekommen, um empfangen zu werden. Ich bin gekommen …«, er hebt die Stimme und betont jedes Wort einzeln: » UM MICH DER JUSTIZ ZU STELLEN !«
    »Ich habe sehr wohl verstanden. Ich stelle mich auch jeden Morgen der Justiz. Und dieser junge Mann ebenfalls.«
    »Aber ich komme, um verhaftet zu werden. Ich bin ein Verbrecher.«
    »Dann kommen Sie morgen wieder. Heute ist niemand da.« Und er vertieft sich wieder in sein großes Heft. Rassul platzt vor Zorn; er legt seine Hände auf die Papiere und schreit sich die dürre Kehle aus dem Leib: »Haben Sie gehört, was ich gesagt habe? Haben Sie verstanden, was ich will?«
    »Ja, durchaus! Sie sind gekommen, um sich der Justiz zu stellen, weil Sie ein Verbrecher sind. Nicht wahr?«
    Rassul starrt ihn verdutzt an. Der Mann zuckt die Schultern und sagt: »Und nun?«
    »Man soll mich festnehmen.«
    »Aber ich kann nichts für Sie tun. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, bin ich nur der Gerichtsschreiber.«
    » Baba , gib mir Geld, ich gehe Brot kaufen.« Die Stimme des Kindes, dem Rassul zuvor im Flur begegnet ist, dringt hinter den Regalen hervor und lenkt die Aufmerksamkeit der drei auf sich. »Ich werde gehen«, sagt der Junge, der Sohn des Youssef Kabuli. »Nein. Du bleibst hier, wir suchen deinen Vater«, fährt ihn der Gerichtsschreiber an und steckt dem Kind Geld zu. Dann kehrt er grummelnd zu dem großen Heft zurück. »Es heißt, ich sei Gerichtsschreiber, aber in Wahrheit mache ich alles hier. Es gibt keine Prozesse mehr … Also muss ich mich um das Archiv kümmern …« Wieder blättert er im Heft. »Ich schwöre, wenn ich nicht da wäre, wären sämtliche Akten von den Ratten aufgefressen worden. Oder von den Bomben zerfetzt.«
    »Ja, das stimmt. Hier wimmelt es von Ratten!«, bestätigt der Junge, der sich auf Befehl des Gerichtsschreibers daranmacht, die Akten aufzuräumen.
    Von der Haltung des Gerichtsschreibers aus der Fassung gebracht, holt Rassul eine Zigarette hervor und zündet sie an. Seine verzweifelte Stimme überschlägt

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