Verflucht sei Dostojewski
sich: »Ich habe jemanden getötet.« Keiner der beiden beachtet sein Schuldbekenntnis. Vielleicht haben sie es nicht gehört. Also etwas lauter: »Ich habe jemanden getötet«, damit sie es diesmal hören. Die beiden drehen sich zu ihm um, nehmen aber, ohne ein Wort zu verlieren, gleich wieder ihre Arbeit auf.
Sie haben es vielleicht gehört, aber nicht verstanden.
Ich muss undeutlich gesprochen haben. Meine Stimme ist noch immer belegt, kaum hörbar.
Er holt tief Luft, schreit: »Aber verstehen Sie mich denn überhaupt?« Der Gerichtsschreiber wirft ihm einen ärgerlichen Blick zu. Sagt nichts. Wieder Stille, den Kopf über die Akten gebeugt, die Namen, die Zahlen, die Ungewissheiten … Und Rassul fährt fort, als würde er mit sich selbst sprechen: »Ich weiß, dass ich keine Heldentat vollbracht habe. Ich habe nur einen höchst banalen Akt begangen. Aber das spielt keine Rolle. Ich habe getötet und stelle mich der Justiz«, und lässt sich vor einem Schrank auf den Boden sinken.
Rassuls hartnäckige, zunehmend bedrückende Anwesenheit bringt den alten Gerichtsschreiber schließlich doch aus dem Konzept, und er schlägt das große Heft zu. »Farzan, wir machen morgen mit der Suche nach deinem Vater weiter. Geh und koch uns einen Tee«, sagt er zu dem Jungen, der seine Laterne augenblicklich auf den Tisch stellt und aufgeregt fragt: »Grün oder schwarz?«
»Grün oder schwarz?«, gibt der Gerichtsschreiber die Frage an Rassul weiter, der mit erschöpfter Miene antwortet: »Schwarz.«
Farzan verlässt den Raum. Der alte Gerichtsschreiber nimmt die Laterne und geht zu den Regalen hinüber. »Der arme Farzan. Sein Vater war während der Monarchie Buchprüfer, eine respektable Familie. Aber zur Zeit der Kommunisten sind sie zu ihm gekommen, haben ihn verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, ohne jede Erklärung. Wessen wurde er beschuldigt? Niemand hat es je begriffen, und es gab wie für alle Gefangenen dieser Zeit nie einen Prozess. Seine Spur hat sich verloren. Es hieß, er sei gehängt oder nach Sibirien verschleppt worden. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist. Jetzt hat sein Sohn nur eines im Kopf: Er will die Spur seines Vaters finden. Er will wissen, wessen er beschuldigt wurde. Ich bin mir sicher, dass er die Antwort nie finden wird.« Er kehrt hinter den Schreibtisch zurück. »Ich vermute, an dem Tag, als der Vater verhaftet wurde, ist in seiner Familie irgendetwas Schlimmes passiert, das er zu verstehen, das er aufzudecken versucht. Und das ist es, was auch mich interessiert. Der Rest nicht: die Gerechtigkeit, die Ungerechtigkeit und so weiter. Das sind nichts als Optionen, keine festen Kategorien.« Er hält ein paar Sekunden inne, um von Rassuls Gesicht die Wirkung seiner Lebensweisheiten abzulesen, dann fährt er fort: »Seit er hier ist, ist er mein Assistent …«, und gluckst. »Ich sammle gern Geschichten über die Gerechtigkeit. Durch sie kann man die Geschichte eines Landes, den Geist eines Volkes besser verstehen. Ich habe Tausende davon. Ich brauche Zeit, um sie niederzuschreiben. Aber die lässt man mir nicht. Schauen Sie her!« Er zeigt auf einen Aktenberg, der sich in einer Ecke türmt. »Der Oberste Richter hat mich um eine Liste sämtlicher Mudschaheddin gebeten, die unter den Kommunisten im Gefängnis waren, dazu um eine Liste aller schahid . Sie sagen, das Schahid -Ministerium verlange sie. Das Schahid -Ministerium!« Wieder bricht er in Lachen aus, in ein ironisches diesmal, und schaut dabei Rassul an, dessen trauriger Blick sich in eine Rattenfalle auf dem Schreibtisch versenkt hat.
»Na, junger Mann, wen haben Sie denn getötet?«
»Eine Frau.«
»Waren Sie in sie verliebt?«, erkundigt er sich und fährt fort, seine Akten zu ordnen.
»EINE KUPPLERIN ZU TÖTEN ist in unserer hochheiligen Justiz kein Verbrechen. Sie … dich muss also etwas anderes bedrücken.« Der Gerichtsschreiber lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und betrachtet Rassul aufmerksam. Dieser würgt, den Kopf gesenkt, an einem Bissen Brot. Alle drei sitzen um den Schreibtisch herum, der sich in einen Imbisstisch verwandelt hat. »Fassen wir zusammen: Du quälst dich, du fühlst dich vernichtet, weil du nicht verstehen kannst, warum es um dein Verbrechen herum so viele Rätsel gibt. So ist es doch?«
»Ja, aber …«
»Ich fahre fort: Wenn ich dich recht verstehe, hast du zunächst geglaubt, du würdest leiden, weil dein Coup schiefgegangen ist; weil du das Geld und den Schmuck nicht mitgenommen
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