Verfolgt
Mond scheint immer noch ins Zimmer. Alle Gegenstände haben einen silbrig schimmernden Saum: mein Stuhl, das Fenster mit den Vorhängen, die ich vergessen habe, wieder zuzuziehen, und mein kleiner Fernseher. Das muss der Einbrecher von Bewlea sein. Ich stelle mir vor, wie er über Mutters beigefarbenen Teppich tappt, ihre Bücher begutachtet, |124| ihre Gläser, ihren Flachbildfernseher und den DV D-Player . Dann höre ich es in der Küche scheppern. Ehe ich mich versehe, bin ich aus meinem Zimmer und zur Treppe gehuscht. Dabei halte ich mein Handy umklammert, um jederzeit den Notruf drücken zu können. Als ich an der Tür vom Schlafzimmer horche, höre ich meine Mutter leise atmen, mit langen, tiefen Atemzügen, die mir verraten, dass sie tief und fest schlummert, die Schlafmaske auf den Augen, die Ohrstöpsel eingesetzt. Was soll ich tun? Eigentlich habe ich keine Angst, ich bin eher neugierig. Wahrscheinlich ist es bloß irgendein kleinkrimineller Jugendlicher wie Devlin, der dort unten in unseren Sachen wühlt. Vielleicht kenne ich ihn sogar! Wenn ich jetzt die Polizei rufe, sind die frühestens in zwanzig Minuten da. Bis dahin ist der Einbrecher womöglich schon wieder weg. Wie würde sich Devlin wohl verhalten, wenn ihn jemand auf frischer Tat ertappen würde? Ob ich deswegen kaum Angst verspüre, weil ich so einen Bruder habe?
Dann fällt mir ein, dass mein neues Glätteisen noch unten liegt. Schon stürme ich die Treppe hinunter.
Ich reiße die Küchentür auf. »Hau ab!« Ich taste nach dem Lichtschalter und muss blinzeln, als das Deckenlicht angeht. Ich blinzle noch einmal.
Er
ist es.
|125| WÜRSTCHEN
Ein ungefähr achtzehnjähriger Typ starrt mich mit großen dunklen Augen an. Er hat ein gebräuntes Gesicht, einen verfilzten Bart und eine schwarze, ungekämmte Lockenmähne. Er trägt eine zerlumpte graue Hose und eine zu kleine, schmuddelige Bomberjacke. Er ist größer als ich, aber sehr mager. Sein einer Gummistiefel hat vorn ein Loch und der große Zeh guckt heraus. Der Typ ist schmutzig und er stinkt.
»So sieht man sich wieder«, sage ich. Er glotzt mich weiter stumm an und da fällt mir auf, dass ich nur mein kurzes Nachthemd anhabe. Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Du hast mir das Leben gerettet, schon vergessen? Vielen Dank noch mal.« Er steht da wie angewurzelt. Ich mache einen Schritt hinter den Herd, damit man meine Beine nicht sieht. In der einen Hand hält er einen Sack, in der anderen eine Dose Bockwürstchen.
Ich zeige auf die Dose. »Die würde ich nicht nehmen. Die schmecken wie ungewaschene Socken.« Er bleibt stumm, aber ein Grinsen geht über sein Gesicht. »Nimm lieber die aus dem Kühlschrank, die sind frisch vom Metzger«, |126| plaudere ich weiter. Er grinst noch breiter und unwillkürlich erwidere ich das Grinsen.
»Also … was soll das hier?«, frage ich. Ich habe überhaupt keine Angst. Erstens hat mir der Typ das Leben gerettet, da wird er mich jetzt wohl kaum umbringen, zweitens brauche ich nur zu schreien und Mutter kommt. Und drittens bin ich mir zu achtundneunzig Prozent sicher, dass er scharf auf mich ist. Er hat riesengroße Pupillen und kann den Blick nicht von mir wenden. Scheiße! Mir fällt ein, dass er mich ja schon fast nackt gesehen hat. Er hat mich gewaschen, in eine Steppdecke gewickelt und an den Waldrand gelegt. Ich schaue weg. »Übrigens … was hast du mit Tyson angestellt?«, frage ich. »Meine Mutter hätte ihn nämlich gern zurück.«
»Hm?«, macht er tief und heiser und zieht die Augenbrauen hoch. Das Grinsen weicht nicht aus seinem Gesicht.
»Der Hund. Das warst du, der ihn entführt hat, stimmt’s?«
Der Typ schaut erst zur Tür und dann wieder mich an. Jetzt lächelt er nicht mehr, er wirkt ängstlich.
»Was ist denn?«, frage ich. Da fliegt die Haustür auf und knallt gegen die Wand. Jemand trampelt durch die Diele. Instinktiv wittere ich Unheil. Dann wird die Küchentür aufgerissen und Owen kommt hereingeplatzt.
»Hab ich dich!«, brüllt er. »Ich hab dich durchs Fenster gesehen!« Er will den Eindringling packen, aber der Junge |127| hechtet über den Herd und flüchtet sich ans andere Ende der Küche.
»Ich dachte, du sitzt im Flugzeug«, werfe ich im Plauderton ein.
»Schnapp ihn dir!«, brüllt Owen. Sonst noch was? Der Junge ist flink wie ein Affe, den kriege ich nie im Leben zu fassen. Außerdem hat er bloß Lebensmittel geklaut, jedenfalls, soweit ich es mitbekommen habe. Das macht man zwar nicht, aber er
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