Verfolgt
tut mir trotzdem irgendwie leid. Anscheinend hat er kein Dach über dem Kopf und haust im Wald. Er hat Hunger und vor allem – er hat mir das Leben gerettet. Und was noch hinzukommt, trotz Schmutz und Zottelhaar und zerlumpten Klamotten sieht er verdammt noch mal richtig gut aus.
»Lass ihn laufen, Owen«, bitte ich. »Es ist der Typ, der mich neulich aus dem Wasser gezogen hat. Er lässt sich hier bestimmt nicht mehr blicken.«
»Kommt nicht infrage«, sagt Owen.
Ich halte mich im Hintergrund und beobachte das Schauspiel. Owens Chancen stehen nicht allzu gut, schätze ich. Der Eindringling ist jung, schlank und wendig wie ein Stabhochspringer. Owen stürmt quer durch die Küche und reißt dabei den Toaster, eine Reihe kaum benutzter Kochbücher und Mutters neue Ikea-Stehlampe zu Boden. Er stellt sich breitbeinig vor die Tür, angelt sein Handy aus der Hosentasche und tippt mit dem Daumen. Dabei lässt er den Jungen keine Sekunde aus den Augen. Der Junge wiederum hält schützend einen Stuhl vor sich.
|128| »Schön hiergeblieben!«, sagt Owen hämisch. »Ich hab ihn«, sagt er ins Handy. »Bei mir zu Hause.«
»Mit wem telefonierst du da?«, frage ich. Ich habe mich auf die Fensterbank gehockt und die Beine hochgezogen.
»Geh wieder ins Bett, Lexi«, knurrt Owen. »Der Bursche ist gefährlich.«
»Quatsch. Er ist völlig harmlos. Lass ihn laufen.«
»Spinnst du? Er wollte uns bestehlen!«, sagt Owen grimmig.
Ich zucke die Achseln. »Dann ruf doch die Polizei.« Ich glaube nämlich, dass Owen eben einen seiner fiesen Kumpel angerufen hat und die beiden sich einen Spaß daraus machen wollen, den armen Jungen zusammenzuschlagen. Ich male mir aus, wie sich Devlin unter den Hieben von Owens geballten Pranken krümmt. Eine Weile sehen wir drei einander einfach nur stumm an. Jeder misstraut dem anderen. Der Junge lächelt nicht mehr. Er fürchtet sich sichtlich und ich kann es ihm nicht verdenken.
»Geh wieder nach oben, Lexi!«, bricht Owen in barschem Ton die Stille.
»Kann ich nicht«, erwidere ich. »Du stehst im Weg.«
Owen tritt einen Schritt beiseite, aber ich rühre mich nicht vom Fleck.
»Lexi!«, herrscht er mich an. Da klopft es leise an die Haustür.
»Das ging aber schnell«, sage ich. »Und da heißt es immer, die Polizei ist nie zur Stelle, wenn man sie mal braucht.«
|129| »Los, mach auf«, entgegnet Owen drohend. »Und dann gehst du wieder ins Bett.« Er muss sich echt beherrschen. Ich will aber nicht aufmachen. Ich will nicht so einen Brutalo reinlassen, der den armen Landstreicherjungen zusammenschlägt. Ich bin gegen Gewalt.
»Ich ruf dann mal die Polizei«, sage ich betont munter, denn die Stimmung droht jeden Augenblick zu kippen.
»Die ist schon unterwegs«, gibt Owen zurück. Er knirscht mit den Zähnen. Ich fühle mich Owen gegenüber zu nichts verpflichtet und es macht mir nichts aus, dass der arme Junge ein paar Würstchen stehlen wollte. Er ist mein Retter, ich bin ihm noch etwas schuldig. Ich muss Owen irgendwie ablenken.
»Hier!« Ich greife hinter mich, schiebe den Riegel hoch und öffne das Fenster.
»Spinnst du?« Owen stürzt vor. Der Junge ergreift die Gelegenheit und stürmt zur Küchentür und ich springe auf und stelle mich zwischen ihn und Owen. Als der Junge zur Tür rausflitzt, rennt ein nach Schweiß stinkender Berg von Mann in mich rein. »Weg da, blöde Kuh!«, brüllt Owen. Ich falle hin. Im Liegen packe ich Owens Knöchel. Er stolpert, holt mit dem Fuß aus und tritt mir gegen die Schläfe.
»Aua!«, sage ich jammernd.
»Owen!«
Durch die halb geschlossenen Lider sehe ich meine Mutter auf der Treppe stehen. Sie pult sich einen Stöpsel aus dem Ohr. »Was macht ihr denn da?« Es klingt streng. |130| Aber ich habe inzwischen richtig Schmerzen und die beiden sind mir egal. Mir brummt der Schädel. Ich glaube, mir wird schlecht. So wollte ich mich eigentlich nicht bei meinem Retter revanchieren. Ich mache die Augen zu und rolle mich zusammen. Von irgendwo höre ich Rufe, Flüche, Poltern und das Splittern von Glas.
Eine Männerstimme ruft: »Im Garten!«
Dann hört man einen lauten Knall wie von einem Schuss und einen schrillen Aufschrei. Türen schlagen, schnelle Schritte, Motoren werden angelassen. Danach ist es wieder still.
Fast.
Jemand fragt erschrocken: »Lexi?
Lexi?
«
|131| SCHEIßTAG
»Du hast ihn laufen lassen!« Owen ist außer sich, aber das ist mir egal. Es ist drei Uhr früh und ich liege mit einem nassen Waschlappen auf der Stirn auf dem
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