Verfolgt
tief ich fallen würde. Das Seil schneidet mir in die Handflächen und ich trete zweimal neben die Kerben. Kos ist in der halben Zeit unten. Echt irre. Schade, dass ich nicht so gelenkig bin. Ich sitze wieder auf der Erde und untersuche meine neueste Schürfwunde am Arm, da merke ich, dass Kos unverwandt auf eine Stelle starrt. Ein Stück weiter weg sitzen drei Kaninchen mümmelnd im Gras.
»Sind die niedlich!«, sage ich. »Bestimmt sind das auch deine Brüder. Wahrscheinlich sprichst du die Kaninchensprache besser, als du Englisch sprichst, und …« Ich verstumme. Kos hat aus seiner Jacke ein ulkiges Gebilde aus Ästen und Gummiband gezogen. Er sieht sich suchend um und hebt einen Stein auf.
»He, Kos«, sage ich, »du willst doch wohl nicht …« Entsetzt sehe ich zu, wie der Stein durch die Luft fliegt, mitten in die kleine Schar flauschiger Tierchen. Kos macht einen Satz. Er hat ein Kaninchen getroffen, aber es ist noch nicht tot. Mit den Beinen rudernd purzelt es den Abhang hinunter. Aber schon ist Kos bei ihm und greift es sich. Mit einer flinken Handbewegung hat er ihm das Genick gebrochen. Er hält das Kaninchen an den Ohren |172| in die Höhe und schwenkt es triumphierend. Dabei grinst er mich wieder an, aber diesmal kann ich das Grinsen nicht erwidern. Mir ist schlecht, und das nicht nur wegen des armen Kaninchens, sondern auch, weil Kos zu so etwas gezwungen ist, um nicht zu verhungern.
Ich rufe mich zur Ordnung. Ich bin doch hergekommen, um Tyson zu holen.
»Sag mal, Kos«, setze ich an, »kannst du mich zu Tyson bringen?«
Doch ehe er antworten kann, hört man auf einmal Äste knacken und Blätter rascheln. In einiger Entfernung treten zwei Frauen auf den Waldweg. Sie reden und lachen. Sie sind um die fünfzig, tragen Wanderschuhe und haben die Hosenbeine in dicke Wollsocken gesteckt. Um den Hals haben sie Klarsichthüllen mit Wanderkarten drin. Ich drehe mich zu Kos um, aber der hat sich samt seiner Beute in Luft aufgelöst.
Als ich zurückradle, singe ich. Ich treffe zwar nicht alle Töne, aber ich singe sehr gern. Vor allem, wenn ich verliebt bin. Nein, Lexi, lass es!
»Wo warst du denn?«, fragt meine Mutter, als ich reinkomme.
»Bloß ein bisschen an der frischen Luft. Hab mich mit meinem Dealerkumpel getroffen und einen Banküberfall geplant.« Ich schenke ihr mein schönstes Lächeln.
»Du hast aber gute Laune«, stellt sie misstrauisch fest.
»Ach, wir Dealer haben immer gute Laune«, erwidere |173| ich. Als ich den Pulli über den Kopf ziehe, rieseln trockene Zweige und welke Blätter auf den Teppich. Zum Glück klingelt das Telefon. Es scheint um die Hochzeit zu gehen, denn meine Mutter vergisst ganz, dass ich da bin. Auf dem Küchentresen steht eine Plastiktüte mit Lebensmitteln. Die muss ich nachher mal durchsehen. Vielleicht ist ja etwas für Kos dabei. Und ich muss mich in Owens Kleiderschrank nach etwas zum Anziehen für meinen Retter umschauen. Als ich die Treppe hochgehe, summe ich vor mich hin. Mir geht’s so was von supergut …
Nein, Lexi, lass es!
|174| ÜBERFALLEN
Es sind noch zwei Wochen bis zur Hochzeit und die Hysterie steigert sich. Owen ist eine Woche weg, einen Asylbewerber abschieben, hurra!, und meine Mutter ist total im Schönheitswahn. Sie isst kaum noch etwas, was blöd ist, weil sie auch keine Lebensmittel mehr einkauft und ich nichts mehr für Kos beiseiteschaffen kann. Außerdem geht sie jeden Tag vor der Arbeit ins Fitnessstudio und das ganze Bad ist voller nagelneuer Cremes und Wässerchen. Ich benutze ein wahnsinnsteures Parfüm, zwei verschiedene Sorten Volumenschaum für die Haare, Lipgloss mit Kirschgeschmack und eine Make-up-Grundierung, die derart viel kostet, dass ich sie mir nie im Leben werde leisten können. Zum Glück hat meine Mutter einen ähnlich hellen Teint wie ich. Sie hat Fußcremes gekauft und Peelings für raue Ellbogen, pfundweise Lippen- und Konturenstifte, Glitzerpuder, grüne Abdeckcreme und dicke Lidschattenstifte in allen Regenbogenfarben. Und jeden Tag steht mehr von dem Zeug in den Badezimmerregalen, die längst überquellen. Die übrigen Zimmer sind mit Broschüren über Farbberatung, Tischordnungen, 4 8-Stunden -Crashdiäten und Fleckentfernung aus Brautkleidern |175| übersät. Päckchen mit Glitzerstreuseln für die Hochzeitstafel und Schachteln mit biologisch abbaubarem rosa Konfetti, für den Fall, dass die Hochzeitsgäste keins dabeihaben, liegen überall herum. In kleinen Plastikbehältern, die wie
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