Verfolgt
»Irgendwann bin ich jeden Abend weggegangen, mit meinen Freundinnen, etwas trinken oder ins Kino. Alle dachten, ich hätte einen Babysitter, und |223| kaum wart ihr beide eingeschlafen, war ich schon aus der Tür.«
»Das war verantwortungslos«, sage ich. »Uns hätte sonst was passieren können!«
»Weiß ich ja. Aber einen Babysitter konnte ich mir nicht leisten, und als ich erst mal den Duft der Freiheit geschnuppert hatte, konnte ich nicht mehr genug davon bekommen. Ich hatte tagsüber viel bessere Laune, weil ich ja wusste, dass ich abends verschwinden konnte. Natürlich hatte ich gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Ich habe euch jeden Tag früher ins Bett gebracht und die ganze Zeit nur daran gedacht, was ich abends vorhatte«, sagt sie. »Dann bin ich einmal nach Hause gekommen und du hast nach mir gerufen. Du hast im Schlafanzug in deinem Gitterbettchen gestanden. Vor lauter Weinen hattest du ein puterrotes Gesicht, ganz mit Tränen und Rotz verschmiert. Alle Decken lagen auf dem Boden und du warst völlig durchgefroren. Du musst stundenlang geheult haben. Es war ein Uhr früh. Das hat mich aufgerüttelt«, sagt sie. »Ich habe mir zwar immer eingeredet, ich bräuchte kein schlechtes Gewissen zu haben, weil ihr beide ja nicht mitkriegt, dass ich weg bin, aber jetzt hattest du etwas mitgekriegt. Ich habe mir geschworen, euch nie mehr allein zu lassen. Aber schon am nächsten Abend bin ich wieder aus dem Haus gegangen.«
Ich sehe meine Mutter groß an. Ich bin durcheinander. So lange hat sie noch nie am Stück mit mir geredet.
»Ich bin keine Mutter für kleine Kinder«, fährt sie mit |224| ihrer neuen leisen Stimme fort. »Ich bin nicht dazu geschaffen und es macht mir keinen Spaß. Kleine Kinder machen Unordnung und Krach. Ich dachte, das hört nie auf. Euer Dad war mir keine große Hilfe und ich war immer nur fix und fertig.« Sie lächelt matt. »So wie du jetzt bist, bist du mir lieber.«
Ich ziehe bloß die Augenbrauen hoch.
»Euer Dad hätte gern noch mehr Kinder gehabt«, sagt sie. »Ich nicht. Das hat sich nicht grade positiv auf unsere Ehe ausgewirkt.«
»Du hättest erst gar keine Kinder kriegen sollen«, sage ich.
Meine Mutter zuckt ein bisschen zusammen.
»Irgendwann haben meine Freundinnen Verdacht geschöpft. Celia kam vorbei und sprach mich darauf an. Sie meinte, sie wüsste, dass ich euch abends allein lasse. Es würde schon drüber gesprochen, ob man das Jugendamt verständigen müsste. Sie hat gefragt, ob ich noch bei Trost sei. Da habe ich losgeheult und gesagt, dass ich nicht mehr kann. Sie wollte mit mir zu einer Beratungsstelle gehen, aber das habe ich abgelehnt. Mir war klar, dass ich einfach nicht zur Mutter tauge.«
Ausgerechnet die dicke Celia hat die ganze Zeit Bescheid gewusst!
»Am Frühstückstisch habe ich mich dann mit Devlin gestritten und du bist aus dem Hochstuhl gefallen. Du hast geschrien wie am Spieß, obwohl du dir nichts getan hattest. Da bin ich aus dem Haus gegangen, habe abgeschlossen, |225| habe den Schlüssel unter den Blumentopf gelegt, bin ins Auto gestiegen und weggefahren. Als ich auf die Autobahn abgebogen bin, habe ich gewusst, dass ich nicht mehr wiederkomme.« Mutter wischt sich die Augen. »Nach einer halben Stunde habe ich von einer Tankstelle aus Celia angerufen und sie gebeten, vorbeizugehen und nach euch zu schauen. Eurem Dad habe ich auf den Anrufbeantworter gesprochen. Danach bin ich wieder ins Auto gestiegen und möglichst weit weg von euch allen gefahren.« Mutter sieht mich an. Die Tränen laufen ihr übers Gesicht. Noch nie, wirklich noch nie, habe ich sie weinen sehen. Ich wusste gar nicht, dass sie überhaupt weinen kann.
»Später hat mir Celia erzählt, wie sie euch vorgefunden hat. Du hast auf der Treppe gesessen und Devlin getröstet.« Ihr bleibt kurz die Stimme weg. »Das alles tut mir furchtbar leid, Lexi. Ich hatte euch beide wirklich lieb, aber ich war nicht fähig, mich um euch zu kümmern.«
Ich schweige. Ich habe immer gedacht, sie hätte uns wegen eines anderen Mannes verlassen. »Jetzt, wo du größer bist, bin ich sehr gern mit dir zusammen.« Mutter trocknet sich mit einem Papiertaschentuch die Augen. »Du bist schon so selbstständig und aufgeweckt. Schon fast erwachsen. Man kann sich mit dir unterhalten. Ich brauche dir nicht mehr die Nase zu putzen oder die halbe Nacht an deinem Bett zu sitzen. Du weißt ja, wie dringend ich meinen Schlaf brauche. Aber es lag wirklich nicht an dir und Devlin, es wäre mir mit
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