Verfolgt
laufe durch die menschenleeren Straßen und werfe unterwegs flüchtige Blicke auf die Häuser mit den zugezogenen Vorhängen. Dahinter liegen lauter ganz normale Leute in ihren Betten und schlafen selig. Und wenn Emily nicht aufmacht? Wer öffnet schon nachts um zwei die Haustür? Abwarten. Nach grade mal zehn Minuten bin ich in der Hope Street Nummer vier. Ich bin verschwitzt und außer Atem.
Bei Emily ist alles dunkel. Ich will eben klingeln, da erschrecke ich zu Tode, weil die Tür plötzlich aufgeht.
Emily streckt den Kopf hindurch. »Bist du das, Lexi?«
»Ja.« Woher weiß sie das? Anscheinend kann sie hellsehen.
»Komm rein, komm rein.« Emily trägt einen gesteppten rosa Morgenmantel und darunter ein bodenlanges geblümtes Nachthemd. Das lange graue Haar hat sie zu einem platt gelegenen Pferdeschwanz gebunden. Sie macht hinter uns die Tür zu und nimmt mich an der Hand. Ihre Hand ist eiskalt. »Heute feiert Owen seinen Junggesellenabschied, stimmt’s?« Sie sieht mich scharf an. »Ich habe die Männer vorhin in der Hotelbar gesehen.«
»Sie haben sich betrunken und meine Mutter ist nach Cornwall gefahren«, sage ich. »Da bin ich lieber zu Ihnen gekommen.«
Emily mustert mich prüfend. »Du bist ja ganz blass um die Nase. Setz dich erst mal.« Wir gehen aus der schummrigen Diele ins Wohnzimmer, wo nur eine kleine Tischlampe |251| brennt. Ich setze mich in den Ohrensessel am Fenster. Bei Emilys nächster Frage bleibt mir die Spucke weg.
»Ist mit Kos alles in Ordnung?«
»J-j… ja. Beziehungsweise nein. Wovon reden Sie eigentlich?«, stottere ich. Ich dachte, ich bin die Einzige, die von Kos weiß. Ich und Owen.
»Ist schon gut. Kos hat mir erzählt, dass ihr euch trefft«, erwidert Emily und fügt hinzu: »Auf seine Art.«
»Aber woher …?« Emily nimmt wieder meine Hand.
»Du musst unbedingt für dich behalten, dass ich ihn kenne. Versprichst du mir das?«
»Aber …«
»Versprich es mir, Lexi.«
Emily sieht so ängstlich aus, dass ich ihr den Gefallen tue. Sie lässt meine Hand los und lehnt sich in ihren Sessel zurück. »Kos hat sich wahrscheinlich in eins seiner Verstecke verkrochen«, sagt sie. »Ich glaube nicht, dass ihn jemand findet.«
Ich werde ärgerlich. »Was ist hier eigentlich los, Emily?«
Sie wischt sich mit dem Ärmel über das runzlige Gesicht, schüttelt sich und holt tief Luft. »Er heißt Kos«, sagt sie mit schwankender, aber gut verständlicher Stimme.
»Ach was«, erwidere ich grimmig.
»Er war damals in der alten Klinik eingesperrt. Ich habe dir ja erzählt, dass dort ein Gefängnis für Ausländer war.«
»Für Asylbewerber«, stelle ich richtig.
|252| »Es gab einen Krawall und danach hieß es im Dorf, ein Junge sei in den Wald geflohen.«
Wusste ich’s doch!
Emily erzählt weiter. »Ein paar Männer vom Wachpersonal – Owen und die Neasdon-Drillinge – haben einen Suchtrupp zusammengestellt, aber sie konnten ihn nicht finden.« Sie unterbricht sich. »Es war ein großes Gefängnis, jeden Tag kamen und gingen Leute. Es war alles ziemlich unorganisiert. Das ist sogar mir aufgefallen, dabei war ich nur die Köchin. Ich wusste nie, für wie viele Personen ich am nächsten Tag kochen musste. Und als es dann diesen Krawall gab, eigentlich war es ein richtiger Gefangenenaufstand, sind die ganzen Akten verbrannt und niemand konnte mehr nachvollziehen, wie viele Häftlinge es gewesen waren. Ich bin rausgegangen und habe zugeschaut, wie sie die Insassen mit Bussen weggebracht haben, aber Kos und seine Mutter habe ich nicht gesehen. Darum bin ich jeden Abend wieder hingegangen und habe nach ihm Ausschau gehalten.« Sie seufzt. »Eines Tages habe ich ihn dann entdeckt. Ich war immer nett zu ihm, hoffe ich jedenfalls, darum hat er sich aus seinem Versteck gewagt. Weißt du, Schätzchen, ohne mich wäre er verhungert. Deswegen habe ich ihn mit Essen versorgt. Er war doch noch ein Kind.« Ich sehe Emily an. Ich kann es nicht glauben.
»Warum haben Sie nicht die Polizei verständigt? Die hätten sich doch bestimmt um Kos gekümmert und ihn irgendwo gut untergebracht.«
|253| »Pah!«, macht Emily verächtlich. »In der Beacon-Klinik waren illegale Einwanderer untergebracht, deren Asylanträge abgelehnt worden waren. Das Gefängnis war ihre letzte Station vor der Abschiebung. Kos kam aus einem Land, in dem Mord und Totschlag herrschten. Hätte ich ihn verraten, wäre das womöglich sein Todesurteil gewesen!« Wieder ist ihre Stimme ganz zittrig und ich
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