Verfolgt
schaue weg. Ich glaube, ich habe noch so einiges über das Leben zu lernen. Aber eins geht mir nicht aus dem Kopf, etwas, das Emily erwähnt hat.
»Was wurde denn aus seiner Mutter? Sie haben vorhin gesagt, sie ist auch nicht in einen Bus gestiegen.«
»Habe ich das gesagt? Ach, manchmal bringe ich alles durcheinander.« Sie kneift den Mund fest zu und schielt zu mir herüber. Sie ist nicht durcheinander, sie verschweigt mir etwas. »Als du mich das erste Mal besucht hast, ist Kos gerade gekommen und hat sich Proviant abgeholt«, wechselt sie dann das Thema und ist wieder entspannter. »War das ein Schreck!«
»Der streunende Kater«, sage ich. Mir fällt wieder ein, wie lange Emily damals weggeblieben ist und wie ich ihren Konservenberg entdeckt habe. Darum hortet sie also Nahrungsmittel – für Kos.
Emily steht auf, geht ans Fenster, zieht die Vorhänge ein Stück auf, späht hinaus und zieht die Vorhänge wieder zu. Sie dreht sich nach mir um. »Ich war nicht dabei. Ich weiß nicht, was vorgefallen ist. Aber seit dem Aufstand damals durchkämmen Owen und die Neasdon-Drillinge |254| immer mal wieder den Wald auf der Suche nach Kos.«
»Als sie vorhin losgezogen sind, hatten sie ein Gewehr dabei«, sage ich langsam. »Angeblich wollten sie auf Kaninchenjagd. Lucas hat seinen Hund mitgenommen.«
»Lieber Himmel! Wir müssen Kos unbedingt warnen! Bevor du hergekommen bist, Lexi, hätten die Kerle ihn beinahe erwischt. Letztes Frühjahr hat er Lucas’ Hund entführt, aber nach ein paar Tagen war Kröte wieder da. Sie haben dann den Hund auf ihn angesetzt. Das Tier kannte ja jetzt Kos’ Geruch und wusste, wo er sich versteckt hält. In der ehemaligen Wohnung des Oberaufsehers haben sie ihn in die Enge getrieben, aber er konnte mit knapper Not entkommen. Du musst unbedingt nachschauen gehen, ob ihm etwas zugestoßen ist, Lexi!«
Ich ziehe die Vorhänge auf und sehe aus dem Fenster.
Draußen ist alles ruhig und wie immer. Es fällt mir schwer zu glauben, dass ich mir das Ganze nicht einfach nur ausgedacht habe.
»Aber warum denn?«, frage ich. »Was haben sie denn gegen ihn?«
Emily dreht ihre Ringe, einen nach dem anderen.
»Owen hat allen Grund, Kos in die Finger kriegen zu wollen. Ich habe dir noch nicht alles erzählt, Lexi.« Sie stockt. »Manches kann ich dir nicht erzählen. Aber der Junge ist ganz bestimmt in Gefahr.«
So leicht lasse ich mich nicht abwimmeln. »Sie müssen |255| es mir aber erzählen, Emily. Wenn ich nachschauen soll, muss ich Bescheid wissen.«
Aber Emily kneift wieder die Lippen zusammen und sieht mich nur an. Sie hat Tränen in den Äuglein.
»Ich kann nicht, Lexi«, flüstert sie.
Mir ist flau im Magen. Ich will nicht allein in den Wald gehen, wenn dort diese besoffenen Kerle rumlaufen.
»Kommen Sie doch mit!«, bitte ich.
Emily schüttelt den Kopf. »Dafür bin ich zu alt. Ich bin schon ewig nicht mehr im Wald gewesen. Früher schon, aber jetzt komme ich ohne mein drittes Bein nicht mehr zurecht.« Sie deutet mit dem Kinn auf ihren Stock, der an der Wand lehnt. »Deswegen hat Kos ja auch angefangen, im Dorf einzubrechen. Ich kann ihn nicht mehr durchfüttern. Ich kann ja kaum noch einkaufen gehen.« Sie sieht mich an. »Ich habe kein Auto, Schätzchen«, stellt sie klar.
»Und wenn wir doch die Polizei anrufen?«
»Auf gar keinen Fall! Ich hab’s dir doch schon erklärt: Kos hält sich illegal hier auf. Und er ist ein Krimineller. Wenn die Polizei Wind von der Sache bekommt, ist Kos erledigt.«
Ich überlege fieberhaft. Da fällt mir Johnny Neasdon ein.
»Wenn du noch mal Hilfe brauchst, kannst du auf mich zählen, Lexi.«
|256| DIE VERRÜCKTE
Johnny liegt schnarchend auf dem Sofa. Ich betrachte ihn einen Augenblick lang und überlege, ob es richtig ist, was ich vorhabe, dann stupse ich ihn mit dem Fuß an der Schulter.
»Aufwachen!«, sage ich. »Wir müssen Ihre Brüder suchen.« Johnny schlägt die Augen auf und schaut mich an. Er grinst und macht die Augen wieder zu. »JOHNNY!«, brülle ich ihm ins Ohr. »Geben Sie mir Ihre Autoschlüssel, sonst rufe ich die Polizei an! Jetzt sofort!« Er macht die Augen wieder auf.
»Owen hat erzählt, dass du ganz schön Pfeffer hast«, brummelt er, setzt sich auf und hält sich den Kopf.
»Es ist drei Uhr nachts. Ihre Brüder und Owen sind mit einem Gewehr in den Wald gezogen.«
Johnny schwingt ächzend die langen Beine vom Sofa. »Du kennst ihn, stimmt’s?«, fragt er und pustet mir seinen Kotzatem ins Gesicht. »Owen
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